29. Plattform Gesundheit: Mind the gap: Versorgungsbedarf versus Fachkräftemangel

Rückblick auf die Veranstaltung vom 13. März 2024

Aufsteller mit Gesundheitsberufen, die gesucht werden

Durch die Alterung der Gesellschaft gewinnt das Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung. Bereits in den vergangenen zehn Jahren war der Gesundheitssektor der Wirtschaftsbereich mit dem höchsten absoluten Beschäftigungswachstum. In den kommenden Jahren dürfte sich der Bedarf an Fachkräften noch weiter erhöhen, trifft aber auf ein zunehmend knapper werdendes Angebot an entsprechenden Fachkräften. Aktuellen Studien zufolge können im Jahr 2035 knapp 1,8 Millionen Stellen im Gesundheitssystem nicht mehr besetzt werden. Für die Behebung des Fachkräftemangels wird es jedoch nicht die eine große Lösung geben, ihm kann nur mittels verschiedener Ansätze begegnet werden. Dies ist das Fazit der 29. Plattform Gesundheit des IKK e.V. Unter dem Titel „Mind the gap: Versorgungsbedarf versus Fachkräftemangel“ diskutierten Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Gesundheitswesen und Wissenschaft sowie rund 160 Gäste das kontroverse, vielschichtige Thema vor Ort und digital.

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„Gerade im Gesundheitswesen werden die Bedarfe der Versorgung absehbar stärker steigen als die vorhandenen personellen und finanziellen Ressourcen“, skizziert Prof. Dr. Boris Augurzky, Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit“ am RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung e.V. den Rahmen des Fachkräftemangels in Deutschland. Deutschland trete hinsichtlich seiner Bevölkerung gerade in die Phase einer Schrumpfung und starken Alterung ein, die das Problem massiv verschärfe, so Augurzky. „Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, um die Personalknappheit zu vermindern“, fordert der Wissenschaftler. „Dabei müssen wir sowohl auf der Angebots- als auch der Nachfrageseite ansetzen.“ Seiner Ansicht nach gehören dazu die Erhöhung der verfügbaren Arbeitszeit im Gesundheitswesen, die Gewinnung von Nachwuchs aus anderen Branchen wie auch die Zuwanderung, aber ebenso der vermehrte Einsatz moderner Technologien, die Aufwertung der Pflege, Bürokratieabbau sowie eine bessere Patientensteuerung und Optimierung der Versorgungsstrukturen. 

„Wir müssen unsere Hausaufgaben machen“, pflichtet ihm Michael Weller, Leiter Abteilung 2 Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung im Bundesministerium für Gesundheit bei. Er verweist einerseits auf den Handlungsdruck gerade für das Gesundheitswesen und andererseits auf die langen Vorlaufzeiten von Reformen bis zu ihrem Wirksamwerden. „Spürbare Wirkungen wird die geplante Krankenhausreform aber erst nach 2030 zeigen“, dämpft er die Erwartungen. Gleichzeitig verteidigt er die Politik der Bundesregierung, die schon in vielen Bereichen dabei sei, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Weller nennt dabei sechs Lösungsansätze, darunter die Erweiterung des Handlungsrahmens für den Einsatz von Pflegenden gemäß ihrer Profession mit dem Pflegekompetenzgesetz oder eine bessere Abstimmung der gesundheitlichen Angebote auf den Bedarf der Patienten im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG). Weller misst dem Fachkräftemangel aber zugleich auch eine Katalysatorfunktion zu: „Der Druck ist derzeit so stark, dass dies auch der richtige Zeitpunkt ist, um die Krankenhausreform und die Digitalisierung voranzubringen.“ In diesem Zusammenhang erklärt Weller, dass die Gesetzentwürfe zum GVSG und zur Krankenhausreform noch vor Ostern in die Verbändeanhörung gehen sollen. Er weist in diesem Zusammenhang auf das kommende Gutachten zum Fachkräftemangel des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege (SVR) hin. Von der SVR-Geschäftsstelle wurde im Nachgang zur Veranstaltung mitgeteilt, dass das Gutachten in der Schlussredaktion sei und am 25. April Herrn Minister Lauterbach übergeben und in der Bundespressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt werde. Am selben Tag werde es auch auf der SVR-Webseite – www.svr-gesundheit.de –  abrufbar sein.

Michaela Evans-Borchers, Direktorin des Forschungsschwerpunktes „Arbeit und Wandel“, Westfälische Hochschule Gelsenkirchen, fordert von den Anwesenden, nicht nur immer von einem Fachkräftemangel hinsichtlich des Bereichs Gesundheit und Pflege zu sprechen, sondern sich selbstbewusst zu vergegenwärtigen, dass diese Herausforderung auch auf Arbeit und Wirtschaft insgesamt ausstrahle. Ihrer Ansicht nach liegt ein hohes Lösungspotenzial in der Schaffung besserer Rahmenbedingungen in der Aus- und Weiterbildung sowie vielseitigere Berufsperspektiven insgesamt. „Wir brauchen atmende Modelle im berufsbiographischen Verlauf, um Menschen in pflegerische und medizinische Berufe zu bringen“, sagt Evans-Borchers. Außerdem setzt sie auf erweiterte Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse in den Gesundheitsprofessionen, so könne die zurzeit noch stark arztzentrierte Versorgung entlastet werden.

Das sieht Stephan Pilsinger, MdB, CSU, Mitglied im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages, fachpolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe für Gesundheitspolitik, ebenso. „Wir müssen mehr darüber reden, wer was macht“, fordert er. Delegation und Substitution seien wesentliche Ansätze. Er betont, dass die Unions-Fraktion bei dem Thema Kompetenzübertragung auf jeden Fall mit dabei sei. Ein weiterer Lösungsansatz ist seiner Ansicht nach die Fachkräftezuwanderung. „Es ist ein internationaler Wettbewerb um gute Fachkräfte“, weiß Pilsinger und fordert: „Deutschland muss sich wettbewerbsfähiger machen!“ Dazu zählten auch Förderprogramme für ausländische Pflegekräfte, eventuell sogar Ausbildungen im Ausland.

Christine Vogler, Präsidentin Deutscher Pflegerat e.V., legt Wert auf das eigenständige Tätigwerden der Pflegenden und verweist dabei auf entsprechende Kompetenzzuweisungen im Ausland sowie den Bedarf einer Akademisierung der Pflege. „Wir brauchen eine Kompetenzneuaufstellung der Gesundheitsfachberufe.“ Damit einhergehen müsse aber auch eine Aufwertung der Pflegeberufe insgesamt. „Die Pflege hat einen zu geringen Status“, beklagt Vogler. Die Präsidentin des Pflegerats sieht aber auch die Gesellschaft insgesamt in der Pflicht: „Es ist dringend erforderlich, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken.“

Das ist auch für Jens Cordes, arbeitgeberseitiger Verwaltungsratsvorsitzender der IKK – Die Innovationskasse ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt. „Wir müssen mehr Prävention wagen“, sagt der Verwaltungsratsvorsitzende. Es müsse das Ziel sein, durch Prävention und Gesundheitsförderung krankheitsbedingte Ausfälle oder Berufsaufgaben zu verhindern. Hierzu muss die Betriebliche Gesundheitsförderung weiter ausgebaut werden.

Auf einen weiteren Lösungsansatz weist der IKK e.V.-Vorstandsvorsitzender Hans Peter Wollseifer in seinem Vortrag hin. Er setzt auf der Nachfrageseite an. Wollseifer argumentiert, dass die Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte deutlich reduziert werden müsse. „Nirgendwo in der EU bzw. den OECD-Staaten gehen die Menschen häufiger zum Arzt als in Deutschland, ohne dass dabei aber die Qualität der gesundheitlichen Versorgung steigt“, erläutert er. Wenn es gelänge, die Kontakte zu reduzieren, sei dies ein Mittel in dem Lösungsmix, dem Druck des Fachkräftemangels entgegenzuwirken. Deshalb sprechen sich die Innungskrankenkassen auch für eine gezielte Stärkung der Hausarztzentrierten Versorgung aus. Des Weiteren merkt Wollseifer die Stärkung des ambulanten Bereichs insgesamt und auch hinsichtlich der Fachkräfte an. „Es besteht Einigkeit darüber, dass wir über eine zu große Anzahl an Krankenhäusern zu viel Personal binden, das in der ambulanten Versorgung effizienter eingesetzt werden könnte“, sagt er.

In seinem Schlusswort folgert Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V., angesichts der auf dem Tisch liegenden Vorschläge zur Lösung des Fachkräftemangels, das Problem liege auf der Hand: „Wir haben mit mehr Versorgungsbedürftigen, weniger im Gesundheitswesen tätigen Fachkräften und weniger Beitragszahlern die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen.“ Die Zeiten des „Mehr ist mehr“ seien vorbei. „Was entscheidend ist: Wir müssen die Strukturen ändern. Es geht um die gezielte Ergänzung und Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe!“ Dabei hat der Geschäftsführer grundlegende Strukturänderungen im Gesundheitswesen ebenso im Blick, wie die der gesundheitsberuflichen Professionen, die er zu einem Zusammenspiel auffordert.“ Hier könne man auch vom Handwerk lernen, ergänzt er. Er sehe dabei aber durchaus hoffnungsvoll nach vorne und verweist auf das Statement von Petra Grimm-Benne, Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt. Grimm-Benne habe in dem Video-Statement aufgewiesen, dass man versuche, den in der Diskussion genannten Lösungsmix  schon umzusetzen. So erläutert die Ministerin: „Wir haben schon wichtige Weichen gestellt, um in Zusammenarbeit mit der Arbeitsagentur, den Unternehmen und Kammern bei diesem Thema voranzukommen“. Sie verweist auf eine Umstrukturierung der Ausbildung, eine Erhöhung der Vergütung, eine Ausweitung der ausländischen Zuwanderungen sowie eine Stärkung der ländlichen medizinischen Versorgung in Sachsen-Anhalt.

Bildergalerie
Einen kleinen Eindruck von der 29. Plattform Gesundheit "Mind the gap: Versorgungsbedarf versus Fachkräftemangel" erhalten Sie hier in unserer flickr-Bildergalerie.

Mitschnitt
Ein Mitschnitt unserer 29. Plattform Gesundheit "Mind the gap: Versorgungsbedarf versus Fachkräftemangel" steht Ihnen in unserem Youtube-Kanal zur Verfügung.