Die Kassen müssen sich wehren dürfen!

IKK e.V.-Vorstandsvorsitzende Hans-Jürgen Müller und Hans Peter Wollseifer sowie Prof. Dr. Rainer Schlegel, ehemaliger Präsident des Bundesozialgerichts

Das Ergebnis kam nicht unerwartet, aber es war dennoch ein Schock: Das Bundesgesundheitsministerium hat vergangene Woche die aktuellen KV-45-Zahlen für das 1. Halbjahr 2024 vorgelegt. Demnach haben die 95 Krankenkassen von Januar bis Juni ein Defizit in Höhe von 2,2 Milliarden Euro eingefahren; die Leistungsausgaben stiegen überproportional um 7,6 Prozent auf 10,9 Milliarden Euro. Ursächlich sind dafür teure Gesetze der letzten und dieser Legislaturperiode sowie steigende Kosten für versicherungsfremde Leistungen. Letzteres heißt im Klartext: Zunehmend wälzt die Politik die Kosten für gesamtgesellschaftliche Aufgaben auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und damit auf die Versicherten und Arbeitgeber ab. Das trifft auf steigendes Unverständnis, vor allem weil den Kassen die Hände gebunden sind. Im Nachgang zu einer gemeinsamen Pressekonferenz (siehe hier) sprechen die Vorstandsvorsitzenden des IKK e.V., Hans-Jürgen Müller und Hans Peter Wollseifer, mit dem Juristen Prof. Dr. Rainer Schlegel über mögliche Lösungsansätze.

Hans-Jürgen Müller: „Um den Finanzdruck auf unser Gesundheitssystem abzufedern, sollten zunächst die im Koalitionsvertrag angekündigten und schon lange überfälligen Maßnahmen realisiert werden: Die Dynamisierung des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen oder die Erhöhung des Beitrags für Bürgergeld-Beziehende. Allein letzteres würde die GKV um neun Milliarden Euro entlasten. Den Versicherten und Arbeitgebern und damit den Wählern ist nicht mehr zu vermitteln, dass sich die Bundesregierung über ihre selbstgesteckten Ziele im Koalitionsvertrag hinwegsetzt.“

Hans Peter Wollseifer: „Bei einem entsprechenden politischen Willen wäre es ebenfalls ein vergleichsweise leicht umsetzbarer Zug, den Krankenkassen ihre verloren gegangenen Steuerungsinstrumente zurückzugeben. Wir alle wissen, dass die genommenen Steuerungsinstrumente wie Krankenhausabrechnungsprüfungen oder Budgetierungen unsere Hände binden und die Haushalte der Kassen weiter leeren.“

Hans-Jürgen Müller: „Das stimmt. Aber das Bundesgesundheitsministerium sitzt die Probleme aus und wartet offenbar auf wirtschaftlich bessere Zeiten. Denken wir an das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Das hat die drängenden finanziellen Probleme vor allem auf die Beitragszahlenden verschoben statt gelöst und wir warten immer noch auf die vom Gesetzgeber eingeforderten Maßnahmen für eine nachhaltige Finanzierung. Stattdessen wird nebenbei immer fleißig in den Gesundheitsfonds gegriffen, um „Herzensprojekte“ der Koalition zu bezahlen… “

Hans Peter Wollseifer: „…besonders gern auch zur Finanzierung von gesamtgesellschaftlichen Ausgaben, wie beim Transformationsfonds im Rahmen des Krankenhausversorgungs-Verbesserungsgesetzes (KHVVG).“

Hans-Jürgen Müller: „Ja, der Transformationsfonds ist das jüngste Beispiel. Hier sollen über den Zeitraum von zehn Jahren 50 Milliarden Euro von Bund und Ländern zum Umbau und zur Modernisierung der Krankenhauslandschaft eingesetzt werden. Der Bund will sich aber seinen Teil über den Gesundheitsfonds finanzieren lassen. Das heißt, die gesetzlich Versicherten und deren Arbeitgeber finanzieren aus Beitragsgeldern den Transformationsfonds, obwohl der Auf- und Umbau der gesundheitlichen Infrastruktur eindeutig eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist!“

Prof. Dr. Rainer Schlegel: „Das ist ja auch der Grund, weshalb Verfassungsrechtler das Konstrukt des Transformationsfonds als verfassungswidrig ansehen. Überhaupt sollte man sich doch einmal ernsthaft die Finanzproblematik der GKV unter juristischen Gesichtspunkten anschauen. Da kommen doch einige Fragezeichen auf…“

Hans-Jürgen Müller: „Sie meinen…?“

Prof. Dr. Rainer Schlegel: „Nun, den Krankenkassen sind gegenüber dem BMG die Hände gebunden. Sie können sich gegen Eingriffe in den Gesundheitsfonds nicht wehren. Aus meiner juristischen Sicht her, kann das nicht sein! Krankenkassen müssten auch die Befugnis haben, vor dem Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit gesetzgeberischer Maßnahmen prüfen zu lassen, gerade wenn möglicherweise die Zweckentfremdung von Beitragsmitteln im Raum steht!“

Hans-Jürgen Müller: „Soweit mir bekannt ist, ist aber doch grundsätzlich eine Klage bei Zweckentfremdung von Beiträgen möglich, oder?“

Prof. Dr. Rainer Schlegel: „Im Prinzip ist das richtig. Als Einzelperson, also als Versicherter oder Arbeitgeber, kann man sehr wohl klagen. Aber machen wir uns nichts vor. Diesen lang andauernden und finanziell sehr kostenintensiven Ritt durch die deutsche Jurisprudenz hält keine Privatperson durch. Sollte sie auch nicht müssen! Die Krankenkassen als Treuhänder der Beitragsgelder und als Anwalt ihrer Versicherten sollten dies an ihrer statt tun dürfen.“

Hans Peter Wollseifer: „Selbst als juristischer Laie ist mir unklar, warum Universitäten und Rundfunkanstalten, die ja ähnliche Konstrukte sind, vor dem Bundesverfassungsgericht klagen können, Krankenkassen aber nicht?!“

Prof. Dr. Rainer Schlegel: „Genauso ist es. Nichts anderes sollte für Krankenkassen gelten, wenn es um die Belange ihrer Versicherten geht!“

Hans-Jürgen Müller: „Wie kann das Ihrer Ansicht nach gesetzlich verankert werden?“

Prof. Dr. Rainer Schlegel: „Meiner Meinung nach sollte die besondere Stellung der Träger der Sozialversicherung als Treuhänder ihrer Mitglieder klar herausgestellt werden – Art. 87 Abs. 2 Grundgesetz muss daher um einen Satz zur Satzungsautonomie ergänzt werden. Das Grundgesetz hat ja bereits die grundlegende Entscheidung getroffen, dass die Sozialversicherung als mittelbare Staatsverwaltung ausgestaltet ist. Zur Selbstverwaltung gehört aber auch eine substanzielle Autonomie der Versicherten, ihrer Träger sowie ihrer Organe. Es ist angesichts der heutigen Bedeutung der Sozialversicherung, ihres Finanzvolumens und nicht zuletzt ihrer Funktion als ‚Garant des sozialen Friedens‘ in Deutschland, nicht mehr angemessen, im Selbstverwaltungsgrundsatz lediglich eine innerstaatliche Organisationsform der Dezentralisation zu erblicken!“

Hans Peter Wollseifer: „Gegen ein solches prozessuales Recht der Krankenkassen kann wohl auch kaum jemand etwas haben…“

Prof. Dr. Rainer Schlegel: „Absolut nicht. Es sei denn, er will sich nicht in die Karten schauen lassen.“

Hans Peter Wollseifer: „Von Ihnen, Professor Schlegel, hört man ja des Öfteren den Satz: ‚Es ist dringend notwendig, dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass Sozialversicherungsbeiträge das Binnensystem der Sozialversicherung nicht verlassen dürfen‘. Ich bin da voll bei Ihnen. Beitragsgelder sind kein Notgroschen für das Regierungsportemonnaie, sondern sie dienen zur Sicherstellung der Versorgung der Versicherten. Wenn das nicht eingehalten wird, müssen juristische Schritte möglich sein.“

Hans-Jürgen Müller: „Einen Gedanken möchte ich noch einbringen… Ich denke, dass noch aus einer anderen Warte heraus der Gesetzgeber die juristische Interventionsmöglichkeit für Krankenkassen vorantreiben sollte: Als versichertenseitiger Verwaltungsratsvorsitzender, für den das Prinzip der Selbstverwaltung ein wirklich hohes Gut ist, bin ich sicher, dass gestärkte Selbstverwaltung einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz und zur Nachhaltigkeit der Sozialversicherungssysteme leisten wird.“

Hans Peter Wollseifer: „Absolut richtig, Herr Müller! Die Politik muss endlich ihrer Verantwortung nachkommen, um tragfähige Lösungen gemeinsam mit den Beteiligten zu entwickeln, die ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem sicherstellen. Und seien wir weitsichtig: Es geht hier ja nicht nur um das Gesundheitswesen, sondern um das Vertrauen in die Politik und die Handlungsfähigkeit des Staates. Denn damit steht es aktuell nicht zum Besten. Wie unsere aktuelle forsa-Umfrage aufgezeigt hat: 57 Prozent der Befragten sind mit der Gesundheitspolitik der Regierung unzufrieden. Hier zeigt sich im Kleinen, was vermutlich auch für die große politische Bühne gilt: Das Vertrauen in die Politik schwindet. Dabei wäre gerade jetzt angesichts des Rechtsrucks und mit Blick auf eine Vertrauensbildung in Politik und Demokratie so notwendig. Die Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sollten die Politik endlich aufrütteln.“

 

Die repräsentative forsa-Umfrage des IKK e.V. aus dem August 2024 hat neben der Zufriedenheit auch verschiedene andere Parameter zur Gesundheitspolitik abgefragt.  Unter anderem geht es auch um die Frage nach den drängendsten Problemen im Gesundheitswesen oder darum, wieviel der Versichertenbeiträge die Krankenkassen tatsächliche für Leistungen ausgeben. Die Ergebnisse der Umfrage sind hier zu finden.