Der IKK e.V. hat in dieser Woche mit dem Positionspapier zur Bundestagswahl seine Vision eines innovativen und zukunftssicheren Gesundheitssystems vorgelegt. Das Positionspapier entwickelt eine Zielvorstellung darüber, welche Voraussetzungen für eine auf Effizienz und Nachhaltigkeit fokussierte Gesundheitspolitik geschaffen werden müssen, skizziert die notwendigen Rahmenvoraussetzungen für eine nachhaltige und verantwortungs- und belastungsgerechte Finanzierung und stellt Kriterien zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung auf. Im Interview mit dem BLIKKWINKEL sprechen die Vorstandsvorsitzenden des IKK e.V., Hans-Jürgen Müller und Hans Peter Wollseifer, über ihre Sicht auf die Herausforderungen der zukünftigen Bundesregierung.
BLIKKWINKEL: „Sowohl die Gesetzliche Kranken- als auch die Soziale Pflegeversicherung melden von Quartal zu Quartal höhere Defizite. Durch das vorzeitige Ampel-Aus werden viele Gesetzgebungsverfahren der Diskontinuität zum Opfer fallen. Wie fällt Ihr Resümee In Bezug auf die Gesundheitspolitik der Ampel-Koalition aus und welche Forderungen an die kommende Legislaturperiode haben Sie?“
Müller: „Man kann kaum ein anderes Fazit ziehen, als dass das Gesundheitssystem in Deutschland in den letzten zwei Legislaturen eine Fehlentwicklung durchlaufen hat. Es ist zu einem der teuersten in Europa bei vergleichsweise niedriger Lebenserwartung geworden. Das bedeutet im Klartext: Die neue Bundesregierung muss dringend in der Gesundheitspolitik ins Handeln kommen! Die strukturellen Schwächen der Versorgung, die sich durch immer schneller verändernde ökonomische, gesellschaftliche wie auch innovative Prozesse verstärken, müssen angegangen werden. Noch immer fehlt es an dringend erforderlichen Strukturanpassungen. Gerade in diesem Jahr wurde besonders deutlich, dass entweder die Reformen ihre Wirkung verfehlten oder – wie die umstrittene Krankenhausreform – im Regierungshickhack oder im Gesetzgebungsverfahren aufgeweicht wurden. Jetzt kommt hinzu, dass aufgrund des Ampel-Aus weitere Reformschritte nicht mehr zum Abschluss kommen werden. Wir brauchen aber mutige Schritte für aufeinander abgestimmte Versorgungsreformen und wir müssen dabei die Patienten und Versicherte stärker in den Fokus rücken!“
Wollseifer: „An erster Stelle bedarf es einer Stabilisierung der Finanzsituation in der GKV. Die GKV verzeichnet inzwischen historisch hohe finanzielle Belastungen: Für 2025 geht der Schätzerkreis der GKV von einem Defizit von 13,8 Milliarden Euro aus. Daraus ergibt sich eine Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitrags um stolze 0,8 Prozentpunkte auf 2,5 Prozent. Das ist der höchste Anstieg der Krankenkassenbeiträge seit den 1970er Jahren. Und auch diese Zahlen scheinen nach Vorlage der Finanzergebnisse der KV-45/3. Quartal hinfällig. Es braucht ein deutliches Umdenken – das steigende Ausgabenniveau kann nicht weiterhin durch kontinuierlich steigende Zusatzbeiträge finanziert werden.“
BLIKKWINKEL: „Wie kann es aus Ihrer Sicht als arbeitgeberseitiger Vorsitzender der Gemeinsamen Vertretung der Innungskrankenkassen gelingen, das Gesundheitssystem aus der finanziellen Misere zu führen?“
Wollseifer: „Die Politik muss dringend dem Gesundheitssystem eine auskömmliche und nachhaltige Finanzierungsgrundlage schaffen, damit sich die Solidargemeinschaft der Versicherten und Arbeitgeber auf die Stabilität der Beitragssätze verlassen kann. Die Finanzierung der GKV muss auf eine Basis gestellt werden, bei der eine 40-Prozent-Grenze wieder Richtschnur ist. Aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen mehr Netto vom Brutto haben. Deshalb ist es wichtig, dass kurzfristig im Rahmen einer Vorschaltgesetzgebung Maßnahmen wie die Dynamisierung des Bundeszuschusses, die angemessene Beteiligung des Bundes an den Versorgungskosten der Bürgergeldempfangenden ebenso wie die Übernahme der Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben angegangen werden.
BLIKKWINKEL: „Haben Sie über die auch schon im letzten Koalitionsvertrag erwähnten Schritte noch weitere Vorschläge?“
Wollseifer: „Ja, natürlich. Aus unserer Sicht ist es wichtig, rechtliche Möglichkeiten der Krankenkassen zu schärfen, bei den Vergütungsverhandlungen mit den Leistungserbringern wieder die Grundlohnsummenentwicklung zu berücksichtigen. Uns würde es helfen, wenn Ausgabensteuerungsinstrumente wie die Budgetierung und die Wirtschaftlichkeitsprüfung, aber auch qualitätsorientierte Ausschreibungen wieder nutzbar wäre. Zudem würde die Senkung der Mehrwertsteuer auf Arznei- und Hilfsmittel auf sieben Prozent die Beitragszahlenden entlasten. Solange der Finanzminister von steigenden Arzneimittelausgaben profitiert, besteht doch für eine Regierung kein Interesse, hier entgegen zu steuern! Leider besteht dieser Interessenkonflikt auch gegenüber den vielfach diskutierten und von uns schon vor drei Jahren entwickelten Vorschlag zur Umwandlung von existierenden Lenkungssteuern auf schädliche Genussmittel wie Alkohol oder Tabak in eine Abgabe zugunsten des Gesundheitsfonds. Verständnis hierfür erhält man, aber auf Einnahmen verzichten will niemand. Wichtig ist für uns auch ein solidarischer Ausgleich von lohnintensiven und weniger lohnintensiven Beschäftigungssektoren. Die Plattformarbeit und die Digitalwirtschaft hat sich an der Finanzierung der Solidargemeinschaft zu beteiligen.“
BLIKKWINKEL: „Ein primäres Anliegen der sozialen Selbstverwaltung ist es ja, sich gerade für die Interessen der Versicherten und Patenten einzusetzen. Mehrfach haben die Innungskrankenkassen in letzter Zeit darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung mehr und mehr in die Rechte der Selbstverwaltung eingreift. Wie ist der Status Quo und was fordern Sie als versichertenseitiger Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. von der kommenden Bundesregierung?“
Müller: „Die Selbstverwaltung als verfassungsmäßiges, demokratisches Fundament der GKV muss wieder gestärkt werden. Wer die Selbstverwaltung untergräbt, bringt das komplette Sozialsystem ins Wanken. Wir fordern von der künftigen Bundesregierung, dass sie sich auf das Prinzip der Selbstverwaltung besinnt und deren Verantwortung ausbaut. Die Selbstverwaltung benötigt Vertrauen, Handlungsfähigkeit und Planbarkeit, um ihre Aufgaben wahrnehmen zu können. Wir sind auch der Meinung, dass den Krankenkassen als Anwalt der Versicherten Klagerechte eingeräumt werden müssten. Hierzu haben wir auf unserer Pressekonferenz im August 2024 gemeinsam mit Professor Schlegel einen Problemaufriss gemacht, der erfreulicherweise schon vielfach aufgegriffen wurde. Auch hier sehen wir eine neue Bundesregierung in der Pflicht, dieser Erkenntnis auch Taten folgen zu lassen.“
BLIKKWINKEL: „Wie lassen sich die Forderungen der Innungskrankenkassen an die kommende Gesundheitspolitik auf den Punkt bringen?“
Müller: „Betrachtet man unser Positionspapier, so lässt sich unser Ziel vielleicht am besten auf diese Aussage herunterbrechen: Wir wollen ein solidarisches und insbesondere auch finanziell nachhaltiges Gesundheitssystem, damit eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung ohne Leistungskürzungen auch zukünftig sichergestellt werden kann.“
Wollseifer: „Eine Stärkung der Strukturen der Sozialversicherung durch eine gute Gesundheitspolitik muss zudem zur Entlastung der Versicherten sowie Betriebe im Handwerk und im Mittelstand führen.“
BLIKKWINKEL: „Herr Müller, Herr Wollseifer, wir danken für dieses Gespräch!“
Das vollständige Positionspapier der Innungskrankenkassen zur Bundestagswahl 2025 kann abgerufen werden unter www.ikkev.de/bundestagswahl2025