Als Verwaltungsratsvorsitzender auf der Versichertenseite der IKK gesund plus und Gewerkschaftler ist für Hans-Jürgen Müller wichtig, dass die Reformbestrebungen von Gesundheitsminister Lauterbach nicht zu Lasten der Versicherten sowie Patientinnen und Patienten gehen und zu Einschränkungen bei der Qualität der Versorgung führen. Hans Peter Wollseifer, arbeitgeberseitiger Vorsitzender des Verwaltungsrates der IKK classic und Präsident der Handwerkskammer zu Köln, blickt auf die Folgen der Gesetzgebung und der ausgebliebenen Strukturreformen für das Handwerk und kritisiert das Überschreiten der 40-Prozent-Hürde bei den Sozialabgaben. Über ihre jeweilige Sicht auf die aktuelle Entwicklung im Gesundheitswesen und die sie verbindenden Punkte haben die beiden miteinander gesprochen.
Hans-Jürgen Müller: „Einig sind wir uns doch beide, dass die im Koalitionsvertrag ursprünglich festgelegten Dinge, wie die Dynamisierung des Bundeszuschusses und die Anhebung der pauschalen Beiträge für die Bürgergeldempfänger, gute Ansätze für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens waren, richtig? Die Ampelkoalition und Minister Lauterbach haben einige ihrer Projekte und Gesetze ja durchaus erfolgreich implementiert. Auch wenn am laufenden Band das Wort ‚Reformstau‘ in den Medien fällt und auch wir Innungskrankenkassen mit kritischen Anmerkungen auf das ‚halb leere Glas‘ nicht gegeizt haben.“
Hans Peter Wollseifer: „Wir haben ja durchaus des Öfteren auch das ‚halb volle Glas‘ gelobt! Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz ist beispielsweise ein wichtiger Schritt für eine bessere Versorgungssteuerung. Zusammen mit dem Digital-Gesetz macht es die Gesundheitsdaten auch gerade durch die Krankenkassen erstmals nutzbar, mit denen wir uns dann individuell um die Versorgung unserer Versicherten kümmern können. Mit Blick auf den Koalitionsvertrag waren wir doch der Meinung, dass uns das Wissen um einen dringenden Handlungsbedarf bei den wirklich großen Themen Digitalisierung, Finanzierung und Strukturreformen im ambulanten sowie stationären Bereich eint.“
Hans-Jürgen Müller: „Das stimmt. Aber leider folgte auf dieser Erkenntnis kein Handeln. Schön wäre es, wenn diese Themen vom Bundesgesundheitsministerium in den letzten Monaten auch konstruktiv angegangen worden wären. Aber ich bin über die politischen Ergebnisse, über die zum Teil fehlgeleiteten Entscheidungen aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) oder über die ausbleibenden Umsetzungen aus dem Koalitionsvertrag, an einigen Punkten schon sehr desillusioniert. Vor allem zwei Kernthemen bereiten mir weiterhin große Sorgen: Es ist das Dauerthema für uns als gesetzliche Krankenversicherung (GKV), die nachhaltige und stabile Finanzierung des Gesundheitssystems und an zweiter Stelle steht die Krankenhausreform.“
Hans Peter Wollseifer: „Die finanzielle Situation der GKV ist tatsächlich besorgniserregend. Diese Erkenntnis eint uns Arbeitgeber- und Versichertenvertreter ja. Darauf weisen wir bereits die ganze Legislaturperiode über hin. Die Prognose des GKV-Schätzerkreises lag im letzten Jahr noch bei einem Defizit in Höhe von 3,2 Milliarden Euro, der GKV-Spitzenverband sieht für 2024 aktuell eine Finanzierungslücke von bis zu 7 Milliarden Euro.“
Hans-Jürgen Müller: „Das verwundert aber auch nicht. Hier spiegelt sich wider, dass das BMG mit dem GKV-Finanzstärkungsgesetz vor allem auf die Rücklagen der Kassen zurückgegriffen hat. Der Rückgriff auf Reserven kann aber keine Strukturveränderungen ersetzen. Wir haben eine strukturelle Unterfinanzierung der GKV. Und mit Blick auf die folgenden Jahre kommen weitere Ausgaben in Milliardenhöhe auf uns zu, insbesondere durch das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz mit der geplanten Vergütungsreform für den hausärztlichen Bereich – Stichwort Entbudgetierung. Aber auch die zurzeit von den Ländern noch blockierte Krankenhausstrukturreform mit dem Transformationsfonds zum Umbau der Krankenhauslandschaft lässt nichts Gutes für die Finanzen der GKV erwarten.“
Hans Peter Wollseifer: „Umso unbegreiflicher ist es doch, dass auch in dieser Legislaturperiode die so dringend von der GKV geforderte nachhaltige Finanzreform nicht angestoßen wurde! Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz brachte nur eine kurzfristige Linderung der Symptome und das überwiegend auf Kosten der Beitragszahlenden, also die Versicherten und die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Mit den ursprünglich für den 31. Mai 2023 vorgesehenen, dann erst im Januar 2024 veröffentlichten ‚Empfehlungen für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung‘ wurde die Umsetzung dieser Maßnahmen auf ‚wirtschaftlich bessere Zeiten‘ vertagt.“
Hans-Jürgen Müller: „Das heißt im Klartext: Nicht mehr in dieser Legislaturperiode!“
Hans Peter Wollseifer: „Richtig, davon ist auszugehen. Das ist bedauerlich, denn wären die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Maßnahmen, wie die Dynamisierung des Bundeszuschusses sowie die Anhebung der Beiträge für Bürgergeldbeziehenden, umgesetzt worden, hätte das alleine schon eine große Entlastung für die GKV bedeutet.“
Hans-Jürgen Müller: „Ja, alleine die Gegenfinanzierung der Beiträge für Bürgergeldbeziehende würde die GKV jährlich um knapp zehn Milliarden Euro entlasten!“
Hans Peter Wollseifer: „Aber es mangelt ja auch nicht an anderen Vorschlägen, die darüber hinaus gehen. Ich denke dabei an unsere gemeinsame Forderung nach einer Abkehr vom alleinigen Lohnkostenmodell zur Verbreiterung der Einnahmenbasis oder einer Umwandlung bestehender Genusssteuern in eine Abgabe in Richtung Gesundheitsfonds. Ausgabenseitig auch an die Hebung von Effizienzreserven durch Strukturreformen in der Versorgung.“
Hans-Jürgen Müller: „Na ja, die Hebung von Effizienzreserven durch Strukturreformen ist ja ein Ziel des Krankenhaustransparenzgesetzes. Aber ich bezweifele, ob dieses Reformprojekt sein Ziel erreicht. Statt eines wirksamen Strukturumbaus soll mehr Geld in die bestehenden Strukturen fließen. Der GKV-Spitzenverband weist zurecht darauf hin, dass im Gesetzesentwurf das Stichwort ‚Bedarfsplanung‘ für den stationären Bereich gar nicht mehr auftaucht!“
Hans Peter Wollseifer: „Das Krankenhausreformgesetz hat sicherlich noch zu behebende strukturelle Schwächen, aber das Ärgernis für die GKV ist doch auch hier die Finanzierung der Reform…“
Hans-Jürgen Müller: „Richtig. Der GKV werden zwar Minderausgaben mit bis zu einer Milliarde Euro pro Jahr versprochen. Diese Zahlen sind doch völlig aus der Luft gegriffen! Mit diesen ‚Luftbuchungen‘ soll doch eher die – verfassungsrechtlich höchst fragwürdige – hälftige Finanzierung des Transformationsfonds mit 25 Milliarden Euro gerechtfertigt werden!“
Hans Peter Wollseifer: „Der Staat muss endlich seiner Finanzierungsverantwortung nachkommen. Aber gleichzeitig wollen wir uns nicht zurückziehen auf die Rolle der ewigen Kritiker, sondern wollen konstruktiver Ideengeber und Problemlöser sein. Wir bzw. alle Akteure im Gesundheitswesen müssen viel stärker gemeinsam an einem Strang ziehen. Wir sollten wieder mehr ins Gespräch und den gemeinsamen Austausch kommen. Außerdem sollten wir uns gemeinsam zur Rolle und Funktion der sozialen wie gemeinsamen Selbstverwaltung bekennen und nicht als ‚Lobbygruppen‘ verunglimpft werden….“
Hans-Jürgen Müller: „… auch dass wir wieder Mut schöpfen, uns auf die wichtigen Dinge und Themen zu konzentrieren, und uns nicht an Detailregelungen abarbeiten und dass wir uns gemeinsam im Gesundheitswesen stark machen für Vielfalt, Akzeptanz und Toleranz! Denn hierauf können wir zurecht stolz sein!“
Hans Peter Wollseifer: „Ich hoffe, dass nach der Sommerpause das letzte Jahr in dieser Legislaturperiode tatsächlich noch Pflöcke für ein nachhaltiges, finanzierbares Gesundheitswesen eingeschlagen werden. Für die Zukunft der Versicherten und Patientinnen bzw. Patienten, aber auch Arbeitgebende ist das dringend notwendig und es sollte bitte nicht im aufkommenden Wahlkampfgetöse untergehen!“