Berlin, 15.3.2018 - Die Verbesserung der sozialen Absicherung von Selbstständigen, wie sie im Koalitionsvertrag formuliert und von der EU-Kommission gefordert wird, erfordert ein umfassendes Reform-werk. Ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen Eigenverantwortung und Solidarität kann nur auf Basis einer breit geführten Diskussion erfolgen. Das ist das Resümee der Gesprächsteilnehmer der 18. Plattform Gesundheit des IKK e.V., die gestern stattfand. Vor mehr als 100 Teilnehmern diskutierten Vertreter aus Politik, Verbände und Gesundheitswirtschaft unter der Überschrift „Selbstständige: Zwischen Eigenverantwortung und Solidarität“ in der Berliner Kalkscheune.
Das Vorhaben der Bundesregierung, die soziale Absicherung von sogenannten kleinen Selbstständige durch eine gründerfreundlich ausgestaltete Altersvorsorgepflicht zu verbessern, sei ein löblicher Ansatz. „Nicht akzeptabel ist es jedoch, dass die für Selbstständige vor-gesehene Mindestbeitragsbemessungsgrenze unter dem derzeitigen Mindestlohn liegen soll“, so Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. Er bezeichnete das Vorhaben der Bundesregierung als „eine Subventionierung nicht auskömmlicher Selbstständigkeit durch die GKV und zu Lasten des handwerklichen Mittelstandes. Eine Regierung mit Spendierhosen – und die GKV als Zahlmeister – das darf nicht der Stil sein.“
Der Vorstandsvorsitzende wies darauf hin, dass die Beitragsschulden der GKV mit derzeit mehr als sieben Milliarden Euro nicht nur auf die ausstehenden Zahlungen von Selbstständigen zurückzuführen seien. Die Rückstände resultieren von allen freiwillig Versicherten und würden auch durch die obligatorische Anschlussversicherung verursacht.
Prof. Dr. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz bekräftigte dies und bemängelte die schlechte Datenlage. Wie die von der Bundesregierung vorgeschlagene Mindestbemessungsgrundlage von 1.150 Euro berechnet wurde, ist dem Professor nach eigener Aussage nicht erklärbar. „Ich weiß nicht, wie die Bundesregierung auf die Zahl kommt“, sagte er. Eine Diskussion über „kostendeckende Beitragsätze“, wie sie z.B. bei den ALG-II-Empfängern geführt werde, halte er für nicht vereinbar mit den Prinzipien einer solidarischen Krankenversicherung. Eine Abkehr von der Mindestbeitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung müsste aus seiner Sicht verbunden sein mit dem Wegfall des Wahlprivilegs von Selbstständigen zwischen GKV und PKV.
Ilka Wölfle, Direktorin der Europavertretung der deutschen Sozialversicherung in Brüssel, sagte, dass alle 28 Mitgliedsstaaten der EU mit dem Problem konfrontiert seien. Grund sei vielfach die Digitalisierung der Arbeitswelt. 60 Prozent der Beschäftigten in der EU würden aktuell in sogenannten Standardverhältnissen arbeiten. 40 Prozent befinden sich laut Wölfle in „a-typischen bzw. selbstständigen, zum Teil in prekären Beschäftigungsverhältnissen“.
Die EU habe sich am 13. März 2018 für eine Empfehlung zur Verbesserung des Sozialschutzes dieser Zielgruppe ausgesprochen: einem „Paket für Soziale Fairness“. Ziele seien die Gewährleistung formeller und effektiver Absicherung durch die Kranken-, Alters- und Unfallabsicherung, die Übertragbarkeit erworbener Rechte und Transparenz. Es soll nur eine Empfehlung sein, ohne Verbindlichkeit, aber verbunden mit einem Berichtswesen.
Der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Holger Schwannecke, verwies auf die wachsende Zahl von Solo-Selbstständigen im Handwerk. 280.000 Betroffene gebe es, 1995 waren es noch 17.000. Zurückzuführen sei dies auf die Novellierung der Handwerksordnung im Jahre 2004. 54 Handwerkszweige seien derzeit zulassungsfrei. Das heißt, es bedarf keines Qualifikationsnachweises. „Das ist kein positiver Beschäftigungseffekt“, so Schwannecke. Vielmehr habe diese Regelung einen ruinösen, preisgetriebenen Wettbewerb zu Lasten des Handwerks eröffnet. Das Resultat sei Scheinselbstständigkeit und Selbstausbeutung. Zu den geplanten Empfehlungen der EU-Kommission sagte Schwannecke: „Nichts aus Europa ist unverbindlich“.
Dr. Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Gründer und Selbstständigen Deutschland, kritisiert die Mindestbeitragsbemessung grundsätzlich, weil sie zu einer Überforderung von Selbstständigen führe. Er sagte, dass sich die Situation noch verschärfe, wenn auch eine Altersvorsorgepflicht eingeführt würde, wie von der Bundesregierung angekündigt. Lutz: „Die jetzt anvisierte Mindestbemessungsgrenze in der GKV ist damit nicht zu halten.“ Seine Forderung: einkommensabhängige Beiträge. Sein Vorschlag: ein berufsständisches Versorgungswerk.
Für den rentenpolitischen Sprecher der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, Markus Kurth, brächte ausschließlich die Bürgerversicherung Abhilfe. Trittbrettfahrer dürfe es nicht geben. Er kritisierte, dass die soziale Absicherung der Selbstständigkeit zurzeit ein Flickenteppich sei. Die Schaffung einer Versicherung, wie für Künstler, Journalisten und Autoren – die Künstlersozialkasse – sei für ihn keine Option, weil dies nicht „einfach“ umsetzbar sei. Er verlangte, dass die Solo-Selbstständigen, wie Honorarkräfte, besser bezahlt werden. Kurth: Die Auftraggeber sollten sich an der Finanzierung der Solidarsysteme beteiligen. Außerdem müsse es eine flexible Versicherungspflicht geben, die sich an die Lebens- und Arbeitsumstände anpasst.
Reinhard Richter, stellvertretender Hauptgeschäftsführer Metallgewerbeverband Nord und Mitglied des Verwaltungsrates der IKK Nord, kritisierte, dass Solo-Selbstständige sich selbst ausbeuten. „Dafür darf jedoch nicht die Solidargemeinschaft gerade stehen“, so Richter. Nach zwei Jahren Gründungsphase mit einem ermäßigten Beitrag müsse ein realistischer Beitrag geleistet werden, um das Sozialsystem nicht zu überfordern.
Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., bemängelte die Höhe der Abgaben in Deutschland. Er setze auf das Wort der Bundeskanzlerin, dass die Sozialabgaben nicht über 40 Prozent steigen werden. Wollseifer appellierte an die Politik, Selbstständigkeit nicht schlecht zu reden, sondern die Eigenverantwortung zu erhalten und zu stärken: „Sonst gibt es bald keine Selbstständigen mehr.“
Der Geschäftsführer des IKK e.V., Jürgen Hohnl, brachte es auf den Punkt: „Wir müssen die neue Arbeitswelt in die sozialen Sicherungssysteme integrieren.“ Die Steuerfinanzierung und eine Alternative zur lohnbezogen Beitragsbemessung seien schon lange bestehende Forderungen der Innungskrankenkassen. Seine Bitte an die neue Regierungskoalition: „Wir brauchen eine fundierte Analyse sowie ein umfassendes Reformkonzept statt einer isolierten Absenkung des Mindestbeitrags. Dafür stehen wir der Politik zur Verfügung!“