Aufgrund langfristiger Entwicklungen im Gesundheitswesen und zugespitzt durch die Folgen der Corona-Pandemie, können Zusatzbeitragssätze in der GKV in diesem und nächsten Jahr nur mit Rekordsummen an Bundeszuschüssen stabilisiert werden. Wie das Finanzierungssystem der GKV ausgaben- und einnahmenseitig nachhaltig aufgestellt werden kann und welche Konsequenzen ein Bundeszuschuss hätte, darüber diskutierten Vertreter:innen aus Wissenschaft, Gesundheitswirtschaft und Sozialpartnerschaft sowie über 130 zugeschaltete Teilnehmer:innen auf der 24. Plattform Gesundheit unter der Überschrift „Zukunft der GKV-Finanzen: Zwischen Sozialgarantie und Leistungsversprechen“. Zwar sei die Diskussion nicht neu, sondern bereits seit Ende der 1980er Jahre immer wieder geführt worden, aber nun sei das System unter ganz neuem Druck, waren sich die Teilnehmer:innen einig.
Gleich zu Beginn der Diskussion betont Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., dass die Ampelkoalition wird liefern müssen. „Das aus den vergangenen Legislaturperioden bekannte Konzept, mit einem warmen Geldregen Probleme zu überdecken, kann nicht weiter greifen“, mahnt der Vorstandsvorsitzende an. Die Vermögen der Kassen seien – auf politischen Druck hin – abgeschmolzen worden und die Erhöhung des Bundeszuschusses sei kein Allheilmittel. Aus Sicht der Innungskrankenkassen müssten tiefgreifende Strukturreformen her, denn weder Beitragserhöhungen zulasten der Arbeitgeber und Versicherten noch Leistungskürzungen dürften Alternativen zur Stabilisierung des Finanzsystems sein. Wollseifer fordert die Erschließung weiterer Finanzierungsquellen. So erachten die Innungskrankenkassen die Abkehr vom alleinigen Lohnkostenmodell als wichtigen Baustein zur Sicherung der Finanzstabilität. Zudem sei zu überlegen, wie z. B. die Digital-, Finanz- und Plattformwirtschaft gerecht an der Finanzierung der Sozialversicherung beteiligt werden könnte.
Boris Velter, Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheitswesen (ASG), erläutert in seinem Vortrag die vielen ausgabenseitigen Herausforderungen für die GKV: Sei es der Pharmabereich, die Finanzierung der Krankenhäuser mit 80 Mrd. Euro jährlich und dem aktuell nicht zu überblickendem Investitionsbedarf oder Mengenprobleme bedingt durch die Honorierungssysteme im stationären und ambulanten Bereich. Velter befürchtet aber, dass nicht allein fehlendes Geld das Problem sei, sondern dass Personal verloren ginge. „Der Fachkräftemangel wird uns mit ganzer Wucht treffen“, befürchtet er. Hinsichtlich des Gesundheitssystems plädiert Velter für einen dynamisierten Bundeszuschuss, der entweder an der Entwicklung der Grundlohnsumme
oder an die gesellschaftliche Vermögensentwicklung geknüpft werde.
Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld; Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, hält aus Finanzsicht wenig von einer Bürgerversicherung. „Die Bürgerversicherung wird einnahmeseitig nach ein paar Jahren keinen finanziellen Vorteil mehr bringen“, weiß er. Auch hinter die Steuerfinanzierung und die Begrenzung des Steuerzuschusses auf versicherungsfremde Leistungen setzt er große Fragezeichen im Hinblick die politischen Risiken der Finanzierung. Pessimistisch sieht er insofern die weitere Finanzentwicklung. Der Bielefelder Professor prophezeit, dass ein Ende der Sozialgarantie absehbar sei und die Betragssätze spätestens ab 2023 steigen werden. Zur Erhaltung der Solidarität nehme die Bedeutung der Subsidiarität zu. „Die politische Antwort wird die Rückkehr der Spargesetze und Verschiebebahnhöfe sein“, warnt Greiner in seinem Impulsvortrag. Er hält angesichts steigender Finanzierungslasten eine stärkere Mischung von Kapitaldeckungs- und Umlageelementen für erforderlich.
Die Diskutant:innen in der Podiumsdiskussion sind sich einig, dass tiefgreifende Strukturreformen notwendig seien. Ralf Hermes, Vorstand der IKK – Die Innovationskasse, ist sich sicher, dass die GKV finanzierbar ist, aber bemängelt den fehlenden politischen Mut. Hermes merkt an: „Wir sollten weniger lamentieren, sondern endlich an das Problem rangehen!“ Sich wie in der letzten Legislaturperiode dem Mikromanagement im Gesundheitssystem hinzugeben, heiße, Strukturreformen zu verschlafen. Der Vorstand der IKK – Die Innovationskasse, fordert ab 2023 eine „Vollbremsung“: Die Ausgaben dürften dann nur noch so stark steigen, wie die Einnahmen. Möglichkeiten, Effizienzreserven zu heben, sieht Hermes in der Digitalisierung und im Bürokratieabbau sowie in einem verstärkten Verhandlungsmandat für die Kassen.
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, Lehrstuhl für Medizinmanagement an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften sieht, dass die Politik den Sicherstellungsauftrag ebenso wenig in Frage stellt, wie sie den Krankenhausbereich vertraglich öffnet. „Ich sehe nicht, dass die künftigen Regierungsparteien ernsthaft Anstrengungen unternehmen, die bestehenden Systeme zu überwinden“, erklärt der Professor. Deshalb sei es sinnvoller den Blick auf den Einnahmenbereich zu werfen. Mit der Dualität, die im Sondierungspapier festgeschrieben ist, ist aus seiner Sicht an der Stellschraube der Beitragsbemessungsgrenze nicht mehr zu drehen. Deshalb sieht er die Notwendigkeit eines dauerhaft höheren Bundeszuschusses.
Dr. Susanne Wagenmann, BDA, Leiterin der Abteilung Soziale Sicherung, fordert, dass die Krankenkassen „in den Fahrersitz“ müssten. Sie hält Wettbewerb für den besten Weg, Effizienzreserven im Gesundheitssystem zu heben. Aber daneben müssten auch die Ausgabengesetze der letzten Jahre auf den Prüfstand gestellt werden – haben sie denn tatsächlich zu den gewünschten Ergebnissen geführt? Gleiches müsse mit dem Leistungskatalog passieren. „Wir können nur evidenzbasierte Leistungen mit nachgewiesenem Zusatznutzen finanzieren“, sagt Wagenmann.
Kevin Leo Schmidt, DGB, Referatsleiter Gesundheitspolitik/Krankenversicherung in der Abteilung Sozialpolitik, betont während der Diskussion, dass Wettbewerb nicht nur über den Preis stattfinden dürfe, sondern über Qualität. Denn ein Preiswettbewerb ginge auch zulasten des Personals. Was man sich nicht leisten könne, erklärt Schmidt, sei eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen des Personals. „Wir wollen wieder eine stärkere Solidarisierung der GKV“, sagt der Gewerkschaftler. Beispielsweise solle eine Krankenhausstrukturreform nicht marktwirtschaftlichen Prozessen überlassen werden, sondern müsse auch am Bedarf ausgerichtet werden. „Wir wollen also nicht nur effiziente Strukturen, sondern auch effektive.“ Grundsätzlich zu diskutieren sei über eine Anhebung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze. Auch die Dualität zwischen PKV und GKV müsse auf den Prüfstand, findet Schmidt und bedauert, dass dies im Sondierungspapier anders festgeschrieben wurde.
Die Ampelkoalition habe zweifelsohne ein schwieriges Erbe übernommen, stellt IKK e.V.-Geschäftsführer Jürgen Hohnl fest. In seinem Schlusswort fasst er zusammen, dass es dauerhaft keine Lösung sei, mehr Geld ins System zu pumpen. Strukturreformen seien notwendig, die aber nicht nur aus der ökonomischen Perspektive, sondern auch auf qualitativer Ebene zu betrachten seien. Auf der Ausgabenseite seien die Bereiche Digitalisierung und Bürokratieabbau unter die Lupe zu nehmen, auf der Einnahmenseite seien Bundeszuschüsse, die nach Ansicht der Diskussionsteilnehmer:innen nicht unbedingt mit einem Einschnitt in die Selbstverwaltung der GKV einhergingen, denkbar. Ebenso könnte die Abkehr vom Lohnkostenmodell ein Weg sein. Hohnl vertritt auch die Ansicht, dass Eigentum verpflichte, weshalb die Diskussion über Renditen im Gesundheitswesen auch geführt werden müsse. „Doch bei allem“, so mahnt Hohnl an, „dürfen wir eins nicht vergessen: Die Menschen im Gesundheitssystem, das Personal ebenso wie die Patienten.“