Letztlich bleibt der Ampelkoalition kaum länger als ein gutes Jahr, um wichtige Reformen im Gesundheitswesen anzugehen und durch den Bundestag zu bringen, bevor sich das gesetzgeberische Zeitfenster im Vorfeld der kommenden Bundestagswahl schließt. Die Zeit ist also knapp bemessen, fällt doch die bisherige Bilanz eher bescheiden aus. Statt Fortschritt, wie die Koalition zu Amtsbeginn ankündigte, ist gerade in der Gesundheitspolitik ein akuter Reformstau unübersehbar. Dieses Fazit ziehen die Innungskrankenkassen im Rahmen ihrer Pressekonferenz in Berlin. Folgerichtig ist das Vertrauen der Versicherten in die Gesundheitspolitik in der ersten Halbzeit der Ampelkoalition auf einen Tiefpunkt gesunken. Laut einer aktuellen forsa-Umfrage im Auftrag des IKK e.V. ist die Mehrheit der GKV-Versicherten (57 Prozent) mit der Gesundheitspolitik der Bundesregierung unzufrieden. Unter den mitten im Erwerbsleben stehenden sogenannten Middle-Agern sind es mehr als zwei Drittel (68 Prozent), die wenig oder kein Vertrauen mehr in die Fähigkeit der Politik haben, für eine hochwertige, bezahlbare und nachhaltige Gesundheitsversorgung zu sorgen.
Die Innungskrankenkassen fordern, dass die Regierung die Finanzierung des Gesundheitswesens auf solide Beine stellt und dabei die Handlungsfähigkeit der Selbstverwaltung für ein stabiles Gesundheitssystem stärkt, indem sie ihr mehr Vertrauen schenkt und mehr Steuerungs- und Lenkungsmöglichkeiten überträgt. Der Erfolg der Krankenhausreform wird auch davon abhängen, dass die Selbstverwaltung beteiligt wird.
Darüber hinaus muss die Regierung die Digitalisierung des Gesundheitswesens weiter vorantreiben und auch hier die Handlungsfähigkeit der Kassen stärken.
Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
Das grundlegendste gesundheitspolitische Thema der 20. Legislaturperiode war und ist die Finanzierung. Obwohl seit langem der Reformbedarf bekannt ist, agierte Gesundheitsminister Lauterbach wie die Vorgängerregierung mit bekannten Maßnahmen: Abschmelzung der Kassenvermögen und Anhebung der Zusatzbeiträge.
„Der Handlungsdruck, um auch künftig unser stabiles, leistungsfähiges und hochwertiges Gesundheitssystem zu erhalten, ist enorm hoch“, erklärt Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. „Wir verstehen nicht, warum die seit dem 31. Mai 2023 überfälligen Empfehlungen zur nachhaltigen Finanzierung der GKV noch immer im Bundeskanzleramt zur Abstimmung liegen.“ Dabei lägen konstruktive Vorschläge auch von den Innungskrankenkassen vor, sagt Wollseifer. Der Vorstandsvorsitzende erläutert die verschiedenen Bausteine zur nachhaltigen Verbesserung der Finanzierung der GKV: „Die Nachjustierung und Dynamisierung des Bundeszuschusses für den Ausgleich versicherungsfremder Leistungen, die Anpassung der Pauschalen für die Bürgergeld-Beziehenden, die Verbreiterung der Einnahmebasis der GKV durch eine Beteiligung der GKV an gesundheits- bzw. umweltbezogenen Lenkungssteuern in Form einer Sonderabgabe sowie die Abkehr vom alleinigen Lohnkostenmodell durch Beteiligung der Digital- bzw. Plattformökonomie an den Kosten der Sozialversicherung“.
Gerade das Thema Umwandlung von Genusssteuern zu einer „Gesundheitsabgabe“ findet bei den Versicherten Anklang, hat die repräsentative forsa-Umfrage im Auftrag des IKK e.V. ergeben. Mehr als 80 Prozent finden eine solche Abgabe gut bzw. sehr gut. „Der Staat nimmt durch die Tabak- und Alkoholsteuer jährlich über 17 Milliarden Euro ein“, weiß Wollseifer. „Eine Umwandlung der Steuern in eine Abgabe zugunsten des Gesundheitsfonds würde die Finanzierung der GKV durchaus schon ein gutes Stück verbreitern.“
Die Innungskrankenkassen haben errechnet, dass alleine mit verschiedenen Maßnahmen auf der Einnahmenseite insgesamt zusätzlich 33,35 Milliarden Euro dem Gesundheitswesen zur Verfügung stehen würden. Heruntergebrochen bedeute dies bei einem Medianeinkommen in Höhe von jährlich 40.740 Euro (2021) eine Einsparung im Zusatzbeitrag von 810,73 Euro im Jahr (Arbeitgeber-/Arbeitnehmeranteil: 405,36 Euro).
Aber auch für die Ausgabenseite haben die Innungskrankenkassen ein Konzept erarbeitet, „Wir Innungskrankenkassen zielen in diesem Konzept auf drei Faktoren“, stellt er fest. „Es geht uns um Steuerungs- und Lenkungsoptionen für die konkrete Versorgung unserer Versicherten, um eine Stärkung der Finanzverantwortung für Bund und Länder aber auch für die Leistungserbringer und nicht zuletzt geht es um eine Fokussierung auf Qualität statt auf Rendite.“
Den Innungskrankenkassen geht es um eine faire Lastenverteilung der Finanzierungsverantwortung auf alle Akteure und um Hebung von Effizienzreserven, bilanziert Wollseifer. „Es geht nicht darum, nur mehr Geld ins System zu pumpen!“ Die IKKn wollen mit ihren Forderungen den Blick weiten auf die verschiedenen Möglichkeiten einer Entlastung von Versicherten sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. „Dies ist unser Beitrag für die vom Bundesgesundheitsminister angekündigte Reformagenda zur Finanzierung der Sozialversicherung“, betont der Vorstandsvorsitzende des IKK e.V.
Digitalisierung im Gesundheitswesen
Dass es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens bislang nicht optimal bestellt gewesen ist, haben zahlreiche Studien belegt. Insofern wundert es auch nicht, dass aus dem Handlungsdruck heraus Bundesgesundheitsminister Lauterbach Mitte August die digitale „Aufholjagd“ ausrief. Der oft zitierte „Digitalisierungsstau“ geht dabei nicht allein auf das Konto der GKV.
„In Deutschland erschweren zahlreiche Insellösungen eine sektorübergreifende Vernetzung. Wir haben eine hoch komplexe, bürokratische Systemstruktur verbunden mit Interessenskonflikten der vielen verschiedenen Akteure“, sagt Peter Kaetsch, Vorstandsvorsitzender der BIG direkt gesund. Die Behauptung, dass Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens weit hinterherhinke, sei also korrekt. „Doch wenn wir den Blick auf die GKV und die Innungskrankenkassen zoomen, öffnet sich ein differenziertes Bild. Wir bieten alle unseren Versicherten seit Jahren Online-Geschäftsstellen an, wir haben die wichtigsten Anträge für unsere Kundinnen und Kunden digitalisiert wie den Aufnahmeantrag, die Bonusprogramme oder die Beantragung von Krankengeld. Wir bieten Online-Postfächer und Versorgungs-Apps an und arbeiten mit Chatbots. Wir Innungskrankenkassen können Digitalisierung, wenn man uns denn lässt“, so Kaetsch weiter.
Allerdings zeige die forsa-Umfrage, dass vielen Versicherten gar nicht bekannt sei, welche digitalen Angebote die Krankenkassen anböten. 59 Prozent geben an, eine Service-App ihrer Krankenkasse zu kennen. Über ein Viertel der gesetzlich Versicherten, genau 29 Prozent, kennt hingegen gar kein digitales Angebot. „Das Ergebnis zeigt uns Krankenkassen sehr deutlich, dass wir unsere Versicherten viel stärker als bisher über diese digitalen Möglichkeiten informieren müssen“, sagt Kaetsch.
Großes Potenzial sieht er sowohl im Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) als auch im Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz - DigiG). „Die Einführung des Opt-out-Verfahrens in Kombination mit einer vereinfachten Authentisierung kann der entscheidende Schub sein, damit die elektronische Patientenakte – kurz ePA – endlich in der Breite bei unseren Versicherten ankommt“, so Kaetsch.
Die IKKn begrüßen auch die verbindliche Einführung des elektronischen Rezepts (eRezept) Anfang 2024. „Doch wir können nicht nachvollziehen, warum die gematik beim eRezept in die Rolle des Anbieters bzw. Entwicklers gesetzt wurde. Diese Strategie war schon in der Vergangenheit nicht erfolgreich, unter anderem wegen einer fehlenden Teststrategie und das darf sich in Zukunft nicht wiederholen“, erklärt Kaetsch.
Als gut durchdacht beurteilt Peter Kaetsch das geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz. „Endlich können wir die Daten unserer Versicherten nutzen, um sie im Sinne ihrer Gesundheit zu informieren und zu beraten. Wir können sie gegebenenfalls sogar vor Gesundheitsgefahren warnen“, sagt er. Die forsa-Umfrage zeige deutlich, dass dies auch die Versicherten wünschten. „Immerhin 71 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, dass zur Verbesserung der Versorgung Gesundheitsdaten stärker als heute von den Krankenkassen genutzt werden sollten“, so Kaetsch.
Für ihn sind die beiden Digitalisierungsgesetze nur der Auftakt, um endlich die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen tatsächlich spürbar zu verbessern. „Weitere Initiativen müssen folgen. Wir Innungskrankenkassen sehen im Versorgungsmanagement noch viel Digitalisierungspotenzial. Wir sind dafür die richtigen Ansprechpartner“, betont Kaetsch.
Versichertenberatung
Den gesetzlichen Krankenkassen wird in regelmäßigen Abständen vorgeworfen, sie würden ihre Versicherten in ihren Belangen nicht ernst nehmen oder gar versuchen, sie bzw. ihre Bedarfe „abzuwimmeln“. Jüngst wurde den Kassen pauschal Irreführung, fiese Trickserei und Täuschung bzw. Belästigung ihrer Versicherten unterstellt. Dabei zeigt der aktuelle M + M Versichertenmonitor: 82 Prozent bezeichnen sich als „zufrieden“ oder sogar „sehr zufrieden“ mit ihrer Krankenversicherung. Stolze 85,9 Prozent der gesetzlich Versicherten beantworten die Aussage „Ich werde auch weiterhin bei meiner Krankenkasse versichert bleiben“ mit „trifft völlig zu“ oder „trifft zu“.
Auch die forsa-Umfrage des IKK e.V. rückt die Rolle der Krankenkassen bei der Versichertenberatung in ein anderes Licht. Die Frage „Einmal angenommen, Sie haben eine medizinische oder gesundheitliche Frage. An wen würden Sie sich wenden? Wer hat Ihrer Meinung nach die größte Kompetenz, Ihre Frage fundiert und für Sie zufriedenstellend zu beantworten?“ brachte zwar ein zunächst wenig überraschendes Ergebnis: Fast alle (93 Prozent) würden sich an ihren Haus- oder Facharzt wenden, vergleichsweise häufig, nämlich 17 Prozent, würde man auch „Dr. Google“ oder Familie, Freunde und Bekannte (16 Prozent) fragen. Aber fast jeder Zehnte würde sich bei Beratungsbedarf auch an seine Krankenkasse wenden. Die Unabhängige Patientenberatung Deutschlands (UPD) oder das Nationale Gesundheitsportal rangieren demgegenüber mit 3 bzw. 2 Prozent bundesweit unter ferner liefen.
„Die Innungskrankenkassen können und wollen ihre Versicherten beraten“, weiß auch Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. und untermauert das mit Zahlen: „Die Innungskrankenkassen haben 2021 im Bereich der Krankenversicherung über 4,7 Millionen Leistungsanträge bearbeitet. Einspruch gegen eine Entscheidung wurde aber nur in 26.000 Fällen eingelegt. Diese Einsprüche wurden zum einen von den Fachabteilungen noch einmal überprüft und, wenn es nicht zu einer Einigung kam, an die Widerspruchsausschüsse weitergeleitet. Insgesamt konnte 40 Prozent der Widersprüche abgeholfen werden.“ Hingegen habe beispielsweise die UPD laut Jahresbericht 2022 bundesweit nur ca. 123.000 Beratungen insgesamt durchgeführt. Beratungen zu Leistungsansprüchen machten dabei rund 40 Prozent aller rechtlichen Beratungen und beliefen sich insgesamt also nur auf 26.600 Fälle über alle Krankenkassen hinweg, so Müller.
Müller bemängelt aber nicht nur, dass auf Basis von Einzelfällen auf das Gesamtsystem geschlossen wird. Er verweist darauf, dass es bislang aus dem Beratungsgeschäft der UPD keine Rückmeldung an die betroffenen Krankenkassen gegeben habe – datenschutz-rechtliche Aspekte hätten dies verhindert. „Damit ist das Beratungsangebot der UPD aus Sicht der Krankenkassen aber ein toter Briefkasten. Das haben wir schon immer kritisiert. In der Öffentlichkeit wird aber der Eindruck erweckt, als würde die UPD die Widerspruchsausschüsse ersetzen. Das ist aber keinesfalls zutreffend!“ Die Arbeit der Widerspruchsstellen sei eine ureigentliche Aufgabe der Selbstverwaltung in der GKV: Es gehe darum, das konkrete Kassengeschäft zu hinterfragen und zu überprüfen und darum, Fallstricke in den gesetzlichen Regelungen aufzudecken. „Beides ist in den Händen der Selbstverwaltung gut aufgehoben!“, so der Vorstandsvorsitzende.
Niemand habe etwas gegen eine unabhängige Beratung, betont Müller, im Gegenteil. Es sei die Aufgabe der UPD, allgemeine Beratungen durchzuführen. „Darin liegt auch ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung“, betont Müller. „Aus unserer Sicht wäre es deshalb auch angezeigt gewesen, die UPD als Bundesstiftung zu errichten und neutral und unabhängig aus dem Bundeshaushalt zu finanziert!
Appell an die Politik
Die Innungskrankenkassen wollen mit der Diskussion dieser drei Kernthemen den Blick auf die notwendige Reformagenda schärfen und mit ihren Konzepten ihren Teil dazu leisten, das Gesundheitssystem solidarischer, gerechter und versorgungsstärker zu machen. „Es ist dringend erforderlich, die verbleibende zweite Halbzeit der Legislaturperiode zu nutzen, konkret die Reformagenda anzugehen und die drängenden Probleme im Gesundheitswesen nachhaltig zu lösen“, fordern die beiden Vorstandsvorsitzenden des IKK e.V. ebenso wie der Vorstandsvorsitzende der BIG direkt gesund.