Auch ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie fehlt es immer noch an einer durchschlagenden, verlässlichen Gesamtstrategie zur Bewältigung der Krise. Dies ist das Resümee der Diskussionsteilnehmer:innen der 23. Plattform Gesundheit des IKK e.V., die am 17. März stattfand. In einer Hybridveranstaltung diskutierten Vertreter:innen aus Politik, Wissenschaft und Gesundheitswirtschaft sowie über 120 zugeschaltete Teilnehmer:innen unter der Überschrift „Wege aus der Pandemie: Welche Lehren lassen sich schon jetzt aus der Corona-Krise ziehen?“ Zwar hätte man mit den Strategien der Testung, der Impfung, der Kontaktnachverfolgung und den AHA-Regeln wirksame Instrumente, aber beim richtigen Zusammenspiel hapere es immer noch. Eine weitere Erkenntnis der Diskussion: Die Lehren, die man bisher aus der Corona-Krise gezogen habe, gehen über das Pandemiegeschehen hinaus. Sie werden langfristig das deutsche Gesundheitssystem fordern und verändern.
Gleich zu Beginn der Diskussion betont Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., dass Deutschland im internationalen Vergleich mit seinem Gesundheitssystem von einer sehr guten Versorgungsbasis aus in die Pandemie gestartet sei. Aber dies habe nicht über strukturelle Defizite bei der Krisenbewältigung hinwegtäuschen können: Fehlende Strategien, unklare Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern sowie ein mit mangelnden Ressourcen ausgestatteter Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD), Strukturschwächen in der medizinischen Versorgung sowie eine noch weit hinterher hinkende Digitalisierung. „Oft hatte und hat es den Anschein, als stünden eher vage Hoffnung und ein blinder Aktionismus hinter den Maßnahmen, als tatsächliche Gewissheit, welche Maßnahme welche Wirkung erzeugen kann und soll“, bilanziert Müller. Zur Überwindung der Pandemie schlägt der Vorstandsvorsitzende des IKK e.V. demgemäß strukturelle Veränderungen vor, etwa die Stärkung des ÖGD und die Vernetzung der Versorgung, aber auch eine Stärkung der Selbstverwaltung und eine gerechte Regelung der Finanzverantwortlichkeiten.
„Die Schmerzgrenze bei einem Marathon liegt bei etwa 27 km“, weiß Erwin Rüddel, MdB, Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit im Deutschen Bundestag. „Bei der Bewältigung der Pandemie haben wir gerade Kilometer 30 hinter uns gelassen.“ Seiner Ansicht nach ist mit der Ausweitung der Impfungen der Höhepunkt der Krise durchschritten. „Ich bin zuversichtlich, dass AstraZeneca im Spiel bleibt, andere Produzenten haben ihre Lieferungen erhöht und weitere Hersteller werden auf den Markt kommen.“ Doch habe die Pandemie gezeigt, dass es langfristig klarere Strukturen brauche und Verantwortlichkeiten deutlicher formuliert werden müssten, so Rüddel. „Wir brauchen Entscheidungsträger:innen mit Mut und Bürger:innen müssen mehr Eigenverantwortung tragen“, fordert der Abgeordnete und stellt in den Raum: „Mehr Eigenverantwortung der Bürger:innen bedeutet aber auch, dass sie bei der Frage der Finanzierung des Systems einbezogen werden müssen.“ Denn: Noch stünde das System gut da, weil die Krankenkassen Rücklagen gehabt hätten. Die Pandemie habe viel aufgezehrt. Rüddel konstatiert: „Wir müssen die Frage der Finanzierung in der nächsten Legislatur stellen.“
In seinem Vortrag zu „Die Corona-Pandemie und deren Bewältigungsstrategien“ wies Prof. Dr. Matthias Schrappe, Universität Köln, darauf hin, dass bei der Diskussion um die Bewältigungsstrategien der Corona-Pandemie oft ein zu technischer Fokus, beispielsweise auf die Digitalisierung, gewählt würde. „Aber was bei den Beratungsgremien der Pandemie komplett fehlt, ist der ärztliche und pflegerische Sachverstand“, mahnt er an. Seiner Ansicht nach empfiehlt sich eine Bewältigungsstrategie „auf zwei Beinen“ zur Überwindung der Krise: „Datenbasis verbessern (valide Zahlen, valide Endpunkte), Protektion der vulnerablen Gruppen sowie die Integration eines Präventionskonzeptes. Außerdem müsse die Epidemie zur gesellschaftlichen Führungsaufgabe gemacht werden“, so Schrappe.
Wesentlicher Dreh- und Angelpunkt bei der Bewältigung dieser und künftiger Pandemien ist der Öffentliche Gesundheitsdienst. Darin sind sich alle Beteiligten einig. Dr. med. Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V., sieht ihre Ämter inzwischen auch auf einem guten Weg, nachdem sie jahrelang ein Schattendasein gefristet hatten. Doch sei das nicht genug. Teichert appelliert: „Der ÖGD muss dringend mittel- und langfristig personell besser aufgestellt werden – nicht nur, um die Pandemie zu bewältigen.“ Sie erinnert daran, dass der ÖGD auch über die Pandemie hinaus viele Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsschutzes übernehme. Teichert sieht zur Krisenbewältigung eine Strategie aus verstärkten Testungen insbesondere in Settings, Impfen und digitaler Kontaktnachverfolgung als zielführend an.
Der Digitalisierung weist Prof. Dr. David Matusiewicz, Wissenschaftlicher Direktor des ifgs Institut für Gesundheit & Soziales, FOM Hochschule für Oekonomie & Management, eine ganz entscheidende Rolle zu. Digitale Anwendungen, etwa zur Kontaktverfolgung, sollten inzwischen doch selbstverständlich sein, meint Matusiewicz. „Wir müssen schneller digital werden, wir brauchen dafür auch ein junges Mindset im ÖGD und andere Strukturen.“ Und weiter: „Wir sollten die Gesundheitsämter verpflichten, ab morgen mit Sormas zu arbeiten.“ Erfolg habe drei Buchstaben: TUN, sagt Matusiewicz, nicht reden. Bezogen auf die Gesundheitsversorgung habe er sogar die Vision eines individuellen Daten-Cockpits, in dem verschiedenste digitale Anwendungen zusammenliefen.
Kai Swoboda, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der IKK classic, kritisiert zu vorderst die bisherige Impfstrategie: „Das Impfen geht nicht schnell genug voran“, betont Swoboda und wird deutlich: „Wenn die Feuerwehr gerufen wird, kommt sie auch nicht mit einem Thermometer, sondern mit dem Wasserwerfer.“ Ebenso unverständlich sei ihm die langsame Teststrategie. Sein Credo: „Einfach mal machen! Wir müssen so viel testen wie möglich.“ Zum Thema ambulante und stationäre Versorgung erklärt der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der IKK classic, dass künftig eine Spezialisierung im stationären Sektor angezeigt sei und ambulante Strukturen stärker miteinander verbunden werden müssten. Man müsse sich auch darüber im Klaren sein, dass Vorhaltekosten entstehen würden. „Diese Vorhaltekosten muss die Gesellschaft finanzieren, dies kann nicht Aufgabe der Krankenkassen sein“, fordert Swoboda.
Dass viele Kosten in der Pandemie von den Kassen übernommen worden seien, ist auch Dr. Edgar Franke, MdB, Mitglied im Ausschuss für Gesundheit im Deutschen Bundestag, bewusst. „Man muss schon zugeben, dass der Eingriff in die Kassenfinanzen kritisch war.“ Die Kassen hätten schwer bluten müssen. „Im nächsten Jahr müssen wir den Zuschuss in den Gesundheitsfonds erheblich erhöhen“, verspricht Franke. Im Hinblick auf die Bewältigung der Pandemie ist er der Meinung, dass Öffnungen nur dann möglich seien, wenn man die Teststrategie ausweite und insgesamt deutlich mehr teste. „Um dies zu realisieren, müssen wir das Testen kostenlos machen. Es wird keine Alternative geben“, so der Abgeordnete. Hoffnungen setzt Franke auch in die Digitalisierung. Dabei würde man beim Datenschutz künftig praktikablere Lösungen finden müssen. „Der übertriebene Datenschutz hat auch viel verhindert.“
Eine stärkere Hinwendung zu mehr Praktikabilität ist auch dem IKK e.V.-Geschäftsführer Jürgen Hohnl wichtig. In seinem Schlusswort mahnt er an, dass die Ermüdung der Bevölkerung nach diesem Marathonlauf der Corona-Pandemie deutlich zu spüren sei. Dies mache Entscheidungen auf politischer Ebene sicherlich nicht leichter, zumal die Debatte zunehmend durch die bevorstehenden Wahlen überlagert werde. Wichtig sei es, die Menschen wieder abzuholen und diejenigen zu motivieren, die sich bei der Bekämpfung der Pandemie beteiligen. „Wir dürfen engagierte Leute nicht frustrieren, die vielen Mitstreiter an der Pandemiefront nicht mit Regeln und Schikanen blockieren. Letztere müssen wir abbauen und insgesamt in unserer Handlungsfähigkeit schneller werden.“ Wie dies gelingen könnte, merkte der Geschäftsführer in Richtung der Politik an, dafür hätten die Innungskrankenkassen in ihrem aktuell veröffentlichten Positionspapier doch zu vielen der drängenden Themen konstruktive Vorschläge für eine nachhaltige, qualitätsorientierte Gesundheitspolitik vorgelegt.