Die Arbeitsteilung im Gesundheitswesen wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Arbeiten im Auftrag des Arztes – Delegation – oder doch die selbstständige Übernahme von bisher allein dem Arzt vorbehaltenen Tätigkeiten durch Krankenschwestern, Heilmittelerbringern oder auch Gesundheitshandwerkern, also die Substitution. Seit dem Jahre 2000 mit der WHO-Erklärung von München Auseinandersetzung mit der „ärztlichen Dominanz“ ist das Thema auf der politischen Agenda. Welchen Beitrag können Delegation und Substitution für die Sicherstellung einer flächendeckenden ambulanten Versorgung leisten? Und unter welchen Voraussetzungen sind ärztliche Leistungen überhaupt übertragbar? Welche Qualitätssicherungsmaßnahmen greifen? Diese Fragen standen im Zentrum der 11. Plattform Gesundheit des IKK e.V. Mehr als 130 Teilnehmer aus Politik, Gesundheitswirtschaft und Krankenversicherung trafen sich zu einem Diskussionsaustausch am 8. Oktober 2014 in der Berliner Kalkscheune.
Mehr Kooperation auf Augenhöhe, weg vom Standesdünkel, hin zur vernetzten Versorgung – und im Mittelpunkt der Patient. Politiker von CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen fordern, die Arbeitsteilung im Gesundheitswesen neu zu definieren.
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„Wir brauchen einen schrankenfreien Dialog und den Mut, auch Beliebtes und Langbewährtes zu hinterfragen“, sagt Dr. Roy Kühne, Berichterstatter für Heil- und Hilfsmittel und nichtärztliche Gesundheitsberufe der CDU/CSU-Fraktion. Für Erfolge von Delegation und Substitution sei „eine messbare und nachvollziehbare Qualität“ erforderlich. Die Zeit sei reif, das Thema voranzubringen, allerdings ist nach seiner Aussage nicht zuerst der Gesetzgeber gefordert. Vielmehr müssten die Verantwortlichkeiten zwischen den Berufsgruppen in Abhängigkeit von der jeweiligen Kompetenz und Ausbidlung geklärt sein.
Die pflegepolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Elisabeth Scharfenberg, kritisiert, dass es bisher „kein einziges Modellprojekt gibt, wo heilkundliche Tätigkeiten auf die Pflegekräfte übertragen worden ist“. Nach ihrer Einschätzung wehrt sich „ein Großteil der Ärzte“ gegen solche Projekte. Laut Scharfenberg hilft es nicht, „wenn Patienten zwischen die Fronten der Gesundheitsberufe geraten“. Ihre Forderung: „Raus aus den alten Schuhen – hin zu stärkerer Kooperation, Vernetzung und Interdisziplinarität bereits in der Ausbildung“. Mit einer einfachen Verschiebung von Tätigkeiten zwischen den Gesundheitsberufen sei nichts gewonnen.
Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. führt aus, dass Vernetzungen in der medizinischen Versorgung immer dann an ihre Grenzen stoßen, wenn es darum gehe, Kompetenzen zu teilen oder gar abzugeben. „Hier wird gern auf Besitzstand gepocht – und nicht nur von Ärztefunktionären“, so Müller. Die Standes-Debatten seien für die Patienten aber nicht nachvollziehbar. Sie wollen nur eins: „eine adäquate, qualitätsgesicherte Versorgung auf möglichst kurzem Wege in überschaubarer Zeit.“ Müller fordert mit Hinweis auf die zunehmende Akademisierung der Ausbildungen „den richtigen Mix aus theoretischem Wissen und praktischen Erfahrungen“ für alle Gesundheitsberufe.
Der demografische Wandel erfordert einen Neuzuschnitt von Aufgaben, so die Aussage von Prof. Dr. Karl-Ludwig Resch, Geschäftsführender Gesellschafter des Deutschen Institutes für Gesundheitsforschung. Im Gegensatz zu Deutschland seien andere europäische Länder bei dem Thema Delegation und Substitution schon erheblich weiter: „Da ist ein riesiger europäischer Dampfer in Fahrt.“ Für Resch sollten langjährige in Deutschland internationale Konzepte berücksichtigt und „behutsam“ adaptiert werden, wie beispielsweise der Arztassistent. Modellprojekte seien dabei nur ein „Hilfsmittel“. Gebraucht werden übergreifende Konzepte mit begleitenden gesetzlichen Regelungen, wo auch die Krankenkassen gefragt sind. Resch: „Nicht Tun ist gefährlich, sondern nichts Tun.“
Nach Ansicht von Thomas Meißner, Mitglied des Präsidiums des Deutschen Pflegerates, muss das „arztzentrierte Gesundheitssystem“ in Deutschland auf den Prüfstand. Denn „alle Gesundheitsberufe stoßen an ihre Grenzen“, so Meißner. Er ist sich sicher, wenn die Dinge neu gedacht werden, auch neu gehandelt werde. Ausschlaggebend dabei müsse die „Expertise“, nicht das Budget, der Versorgungsvertrag oder die Hierarchie sein. Im SGB V, Paragraph 63, Absatz 3c, sind Modellvorhaben geregelt. Die Kernfrage für Meißner ist dabei: „Wo endet Delegation und wo beginnt Substitution.“ Größter Kritikpunkt für ihn seien die zu hohen Anforderungen an Modellvorhaben. Statt vorab die Anforderungen festzulegen, sollten diese Teil der Evaluation werden.
„Ich habe kein Problem mit der Delegation“, sagt Dr. Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der Landesärztekammer und Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer. Nach ihrer Aussage funktioniert auch die Kooperation zwischen Arzt und den anderen Gesundheitsberufen. Die würde zudem gefördert. Als Beispiel nennt sie allein 20 Möglichkeiten der Qualifikation für Medizinische Fachangestellte. Die Substitution – also die selbständige Übernahme von bisher allein dem Arzt vorbehaltenen Tätigkeiten durch nichtärztliche Gesundheitsberufe – lehnt Lundershausen dagegen ab und führt dafür haftungsrechtliche Probleme an: „Was wollen wir in Deutschland?“, fragt die Ärztin.
Gudrun Schaich-Walch, Staatssekretärin a. D, regt an, auch über neue Gesundheitsberufe nachzudenken. Die Delegation sei zwar auf einem guten Wege, jedoch bedarf die künftige Versorgung der Patienten größerer Anstrengungen. Strukturen müssten geändert werden. „Es geht schließlich um die Verteilung von Geld“, so Schaich-Walch.
„Kooperation ist die Voraussetzung für Delegation und Substitution“, sagt Karl-Sebastian Schulte, Geschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Eine Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe sei für ihn unabdingbar: Einer Akademisierung steht er skeptisch gegenüber: „Es muss nicht immer der Master, sondern kann auch der Meister sein.“ Er kritisiert, dass es derzeit nur ein „Gegeneinander, kein Miteinander“ unter den Beteiligten gebe. Kernkompetenzen in den Gesundheitsberufen seien deshalb „noch nicht gehoben“ Schulte: „Jeder glaubt, er verliert etwas, wir können aber nur gewinnen.“
Es geht auch anders, betont Karl-Heinz Kellermann, Präsident des Verbandes für Physikalische Therapie. Seit November 2011 besteht zwischen dem seinem Verband und IKK Brandenburg und Berlin ein Modellprojekt mit 59 Physiotherapeuten. Der Arzt erstellt die Diagnose, der Patient geht damit in die Praxis, der Physiotherapeut entscheidet über die Behandlung. „Wir verzeichnen eine hohe Zufriedenheit der Patienten.“
Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V., regt an, sich von den Begrifflichkeiten Delegation und Substitution zu lösen. Statt über Hierarchien zu reden, sollte das Bewusstsein für einen erweiterten Versorgungsbegriff gestärkt werden. So können die zahlreichen Paradoxien im Gesundheitssystem überwunden werden. Sein Appell: „Lassen Sie uns gemeinsam Verantwortung übernehmen und unsere jeweiligen Kernkompetenzen wertschätzen.“
Bildergalerie der 11. Plattform Gesundheit
Einen kleinen Eindruck von der 11. Plattform Gesundheit zum Thema „Delegation und Substitution. Brauchen wir immer einen Arzt?“ erhalten Sie hier in unserer flickr-Bildergalerie.
Dokumentation
Wir haben für Sie via Twitter parallel von der Veranstaltung berichtet. Die Tweets finden Sie unter @ikk_ev.