Prävention - medizinisch und gesamtgesellschaftlich bedeutsam. Für die Krankenkassen jedoch ein Verlustgeschäft? Die Antwort lautet: ja. Zu diesem Ergebnis kommt ein von den Innungskrankenkassen in Auftrag gegebenes wissenschaftliches Gutachten zu Präventionsanreizen im Finanzausgleich der Krankenkassen. Die Diskussion über Fehlanreize im Morbi-RSA stand im Mittelpunkt der 14. Plattform des IKK e.V. am 27. April 2016 in der Berliner Kalkscheune mit mehr als 150 Teilnehmern.
„Teure, kostenintensive Krankheiten müssen ausgeglichen werden – das ist unsere Kernforderung“, sagt Thomas Ballast, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK). Sogenannte Volkskrankheiten, wie Diabetes oder Bluthochdruck, würden nicht dazu gehören. „Überraschend“ sei für ihn, dass diese Erkrankungen, die in großer Menge vorkommen, auch von Beginn an im Morbi-RSA berücksichtigt wurden. Die Haltung der Ortskrankenkassen, der Finanzausgleich sei gerecht, weist Ballast zurück: „60 Prozent des Kassenmarktes sehen das anders. Es muss etwas verändert werden.“ Eine Korrektur der Prävalenzgewichtung, die auch die Innungskrankenkassen fordern, wäre laut Ballast ein Weg, um Anreize für Prävention zu geben und gleichzeitig gegen die Manipulationsanfälligkeit des Morbi-RSA anzukämpfen.
Auch Iris Schmalfuß, Vorstandsvorsitzende der R + V BKK, kritisiert: „Krankenkassen sind Präventions- und Reparaturbetrieb zugleich. Aber für Prävention werden sie bestraft. Das darf nicht sein.“ Sie verweist darauf, dass „das Geld von den Versicherten kommt und auch für die Versicherten verwendet werden muss“. Für Schmalfuß sei für eine Reform des Morbi-RSA ein „kassenartenübergreifender Dialog“ erforderlich.
Gerd Ludwig, Vorstandsvorsitzender der IKK classic, sagt: „Wenn man Gutes tut, das nicht belohnt wird, ist dies der falsche Weg.“ Der Gesetzgeber sei gefordert, die Beiträge der Versicherten endlich gerecht an die Krankenkassen zu verteilen.
Als „hochaktuell“ bezeichnet Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., das Thema. Auf der einen Seite geht es nach seiner Aussage darum, „Anreize zu setzen, Krankheiten zu vermeiden bzw. Lebensqualität der Versicherten zu verbessern“. Und gleichzeitig müsse auch die gerechte Finanzierung im Blick bleiben. Nach der vom Wissenschaftlichen Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung (WIG²) vorgelegten Expertise gibt es „Fehlanreize im Finanzausgleich, und zwar erhebliche“, sagt Wollseifer. Der Vorstandsvorsitzende betont, dass die Innungskrankenkassen dennoch Prävention „sehr ernst nehmen“. Allein für primärpräventive Maßnahmen haben die Innungskrankenkassen 2014 fast 24 Millionen Euro ausgegeben. „Das waren pro Versicherten 4,36 Euro. Der Schnitt über alle Kassenarten hinweg lag bei 4,16 Euro“, betont Wollseifer.
Das Gutachten habe jetzt nachgewiesen, dass erfolgreiche Präventionsarbeit durch einen Verlust von Deckungsbeiträgen bestraft werde. Wollseifer: „Allein aufgrund einer pauschalen Berücksichtigung der Investitionen in die verschiedenen Präventionsmaßnahmen mussten die Innungskrankenkassen 2014 mehr als 40 Millionen Euro aus eigenen Mitteln finanzieren.“ An Kritik zum Gutachten aus den Reihen der Ortskrankenkassen gerichtet, sagt Wollseifer: „Die Innungskrankenkassen führen hier keine ‘Schlacht von gestern‘. Im Gegenteil: Wir stellen eine Richtungsentscheidung der Vergangenheit auf Basis von aktuellen Daten erneut zur Diskussion.“
Prof. Dr. Joachim Kugler vom Lehrstuhl Gesundheitswissenschaften / Public Health an der Medizinischen Fakultät der TU Dresden, zeigt die Bedeutung von Prävention auf. So sei die Lebenserwartung weniger ein biologisches Schicksal, sondern vielmehr ein Produkt des Lebensstils. Rund 48 Prozent der Todesursachen seien auf „modifizierte“ Risikofaktoren zurückzuführen: Rauchen, Übergewicht, Alkohol. Sein Fazit: Prävention lohnt sich volkswirtschaftlich und für jeden Einzelnen – entscheidend ist der Weg, so der Dresdner Wissenschaftler.
Das Gutachten bestätigt dies. Die Innungskrankenkassen haben dafür anonymisierte Daten von rund sechs Millionen Versicherten aus dem Zeitraum von 2010 bis 2014 zur Verfügung gestellt, wie Dr. Dennis Häckl, Geschäftsführer von WIG², berichtet. Vergleichbare Gruppen nach Alter, Geschlecht und Krankheitslast wurden gebildet – jene, die Präventionsleistungen in Anspruch genommen haben und eine Kontrollgruppe ohne diese Leistungen. Untersucht wurde die Entwicklung von Leistungsausgaben und Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds bei verschiedenen, der Prävention zugänglichen Krankheiten.
Fazit ist, dass die Präventionsgruppe gesünder ist als die Kontrollgruppe. Die Leistungsausgaben entwickeln sich unterdurchschnittlich. Dieser Vorteil geht jedoch durch einen Verlust von Deckungsbeiträgen verloren. „Uns hat überrascht, dass die Ergebnisse die finanzielle Benachteiligung so klar belegen“, sagt Häckl. Seine Schlussfolgerung: „Prävention rechnet sich betriebswirtschaftlich für die Kassen nicht.“
„Wenn sowohl Leistungserbringer als auch Krankenkassen über die Optimierung von Diagnosen ihre finanzielle wie wettbewerbliche Position verbessern können, wer investiert dann noch langfristig in Prävention?“, fragt Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V. „Widersinnig“ sei es, dass die Politik die gesundheitliche Prävention forcieren wolle „und gleichzeitig über den Morbi-RSA erkennbar falsche Anreize setzt“. Hohnl verweist noch einmal auf die „präventionsaffinen“ Volkskrankheiten, wie Diabetes oder auch Herz-, Kreislauf- und Atemwegserkrankungen. Obwohl jede einzelne IKK zu Prävention und Morbi-RSA stünde, sei eine Reform des Finanzausgleichs der Krankenkassen überfällig. Verlangt wird, so Hohnl, die unangemessen starke Berücksichtigung von sogenannten Volkskrankheiten zurückzunehmen. Auch an dem derzeitigen System der pauschalen Berücksichtigung von Präventionsausgaben muss nach Aussage des Geschäftsführers des IKK e.V. eine Änderung herbeigeführt werden. „Die kassenindividuellen Zuweisungen für Primärprävention muss sich mehr an den realen Ausgaben der jeweiligen Kassen orientieren“, sagt Hohnl. Ein „gedeckelter Ist-Kosten-Ausgleich“ würde die Präventionsanreize für die Kassen nachhaltig stärken.
Innungskrankenkassen, Techniker Krankenkasse und R + V BKK fordern jetzt eine Stärkung des Präventionsgedankens im Finanzausgleich der Krankenkassen. Die unangemessen starke Berücksichtigung von Volkskrankheiten im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) muss ein Ende haben – so der Appell an die Politik.
Bildergalerie der 14. Plattform Gesundheit
Einen kleinen Eindruck von der 14. Plattform Gesundheit zum Thema „Prävention - ein Verlustgeschäft? Von Fehlanreizen für die GKV“ erhalten Sie hier in unserer flickr-Bildergalerie.
Dokumentation
Wir haben für Sie via Twitter parallel von der Veranstaltung berichtet. Die Tweets finden Sie unter @ikk_ev.