Schon in der letzten Legislaturperiode schrieb sich die Große Koalition die Digitalisierung im Gesundheitswesen auf ihre Fahnen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach führt unter der jetzigen Ampelkoalition diesen Kurs fort. Die von der Politik angestoßene digitale „Aufholjagd“ sei längst überfällig, ist das Fazit der 28. Plattform Gesundheit des IKK e.V. Unter dem Titel „Gesundheitsdaten: Von Patientennutzen und Profitversprechen“ diskutierten Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Gesundheitswirtschaft und Verbraucherschutz sowie rund 130 Gäste vor Ort und digital zugeschaltet. Um die Gesundheitsdaten jedoch adäquat nutzen zu können, bedarf es eines Perspektivwechsels im Datenschutz. Dieser müsse die Chancen der bestmöglichen Nutzung vorhandener Gesundheitsdaten stärker in den Vordergrund stellen und den Versicherten eine verantwortungsvolle Nutzung ihrer Daten ermöglichen. Strukturierte Daten müssen aufwandsarm in die elektronische Patientenakte (ePA) eingespeist werden. Bei der Primärdatennutzung müssten Aufklärung und Information nah an der Lebenswirklichkeit der Menschen realisiert werden, so dass die Dateneigner, die Versicherten, befähigt werden, verantwortungsvoll mit ihren Daten umzugehen. Für die Sekundärdatennutzung müsse gelten, dass der Zweck des Gemeinwohls fest verankert und transparent ersichtlich sei. Über allem steht jedoch der Anspruch nach Praktikabilität der Lösungen.
Dass die Bestrebungen der jetzigen Regierung die Digitalisierung in Schwung brächten, darin sind sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig. „Die Gesetze gehen in die richtige Richtung“, erklärt Erwin Rüddel MdB, CDU. Der Berichterstatter für Digitalisierung im Gesundheitswesen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied des Ausschusses für Gesundheit begrüßt, dass Regierung und Opposition hier in die gleiche Richtung arbeiten. Uwe Deh, Vorstandsvorsitzender der IKK gesund plus, sieht in den aktuellen Gesetzen die Möglichkeit, „vom digitalen Nachsitzen in der siebten Stunde ins echte Leben“ zu starten und warnt aber davor, die positiven Ansätze, wie die Auswertungsoptionen für die Kassen, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu schleifen. Matthias Mieves MdB, SPD, Mitglied des Gesundheits- und des Digitalisierungsausschusses, zeigt sich erleichtert über die digitale „Aufholjagd“ und verweist darauf, dass viele europäische Nachbarn in der Digitalisierung weit voraus seien – Skandinavien beispielsweise ganze 20 Jahre gegenüber Deutschland.
Dr. Susanne Ozegowski, Abteilungsleiterin Digitalisierung & Innovation im Bundesministerium für Gesundheit, verweist in ihrem Vortrag darauf, dass die elektronische Patientenakte (ePA) Herzstück des digitalen Schubs sei. Die jetzigen Gesetzespakete mit dem Digitalgesetz und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz seien ein Wendepunkt. Sie nennt hier neben der Einführung der Opt-out-Regelung die Interoperabilität als Beispiele. Parallel hierzu seien grundlegende architektonische Umbauten bei der ePA notwendig damit die Daten nicht nur sicher in der ePA gespeichert würden, sondern sie auch einfach genutzt werden können. „Dieses Dreiergespann wird ein zentraler Faktor sein, dass die ePA im Jahr 2025 nicht nur auf dem Papier eingeführt wird, sondern auch den gewünschten Nutzen in Versorgung und Forschung endlich mit sich bringt“, prophezeit die Abteilungsleiterin aus dem BMG. Wichtig sei, dass Versorgungsprozesse nicht mehr solitär gedacht, sondern zusammenhängend gestaltet werden. Deshalb werden künftig auch digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) an die ePAs angebunden und Disease-Management-Programme (DMPs) digitalisiert.
Für Dr. Sibylle Steiner, Mitglied des Vorstandes der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), ist die Praktikabilität unabdingbar. Für sie hat die ePA dann einen Mehrwert, wenn sie die innerärztliche Kommunikation und die Praxisabläufe vereinfacht. Erwin Rüddel MdB, CDU, sieht die ePA in der angedachten Form dann als erfolgreich an, wenn sie niederschwellig zugänglich wird. In der Digitalisierung von unstrukturierten Altbefunden sieht der Abgeordnete keinen Mehrwert. Als Hemmschuh empfindet er den Datenschutz in seiner bisherigen Form. Rüddel merkt an, dass in Deutschland 18 Datenschutzbehörden nicht immer mit einheitlichen Schwerpunktsetzungen arbeiten würden, in anderen Ländern sei oft nur eine Stelle für den Datenschutz zuständig.
Thomas Moormann, Leiter für das Team Gesundheit und Pflege, vom Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. stimmt Rüddel zu. Der Datenschutz sei die Bremse in der Digitalisierung. Jedoch hätte das daran gelegen, dass die Datenschützer zu spät eingebunden worden seien. Sie hätten kein Interesse an einer Blockade, ist sich Moormann sicher. Dazu bestünde auch wenig Anlass, argumentiert der SPD-Abgeordnete Mieves. „Die Leute haben keine Angst vor der Datennutzung an sich, sondern sie fordern eine sinnvolle Datennutzung!“ IKK gesund plus-Vorstand Deh wird deutlicher: „Die Verfechter des Datenschutzes agieren bisher sehr vormundschaftlich und die Dateneigner werden wie latent geschäftsunfähig behandelt“. Deh fordert, dass die Information und die Aufklärung in Zukunft an den Lebenswirklichkeiten der Menschen ausgerichtet werden. Der Vorstandsvorsitzende des IKK e.V., Hans-Jürgen Müller, betont in seinen einführenden Worten, dass die Innungskrankenkassen die Datennutzungsvorstöße der jetzigen Bundesregierung sehr begrüßen. Sie sehen die Möglichkeiten der Nutzung von Primärdaten für die Versorgung der Patienten als wirklichen Quantensprung an. Die Versicherten hätten weniger Bedenken hinsichtlich der Auswertung ihrer Daten durch die Krankenkassen. Eine forsa-Umfrage des IKK e.V. im August 2023 habe gezeigt, dass 81 Prozent der befragten GKV-Versicherten es gut finden, wenn Kranken- und Pflegekassen die Daten ihrer Versicherten zur Verbesserung der Versorgung und der Patientensicherheit auswerten und ihre Versicherten ansprechen dürfen.
Kritik kommt von Seiten der Ärzteschaft: Sie sehen im neuen § 25b SGB V aus dem GDNG, der den Krankenkassen die Möglichkeit einräumt, Abrechnungsdaten für eine bessere Beratung ihrer Versicherten aufzubereiten, keinen Nutzen. Dr. Sibylle Steiner argumentiert, dass die Daten nicht geeignet seien: „Es gibt kein valides Prognosemodell, um schwerwiegende Gesundheitsgefahren erkennen zu können. “ Die Abrechnungsdaten seien hierzu ungeeignet. Bezüglich der Beratungskompetenz verweist die KBV-Vorständin auf Gefahren durch mögliche falsch-positive Diagnosen. Dies könnte zu einer starken Verunsicherung der Patienten führen.“ Der Abgeordnete Mieves hält diese Befürchtungen für ungerechtfertigt. Im Gegenteil, gerade in der Prävention habe Deutschland Nachholbedarf. Die Datennutzung, die Beratung und die Unterbreitung von Vorsorgeangeboten durch die Krankenkassen sei ein ganz wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheitsvorsorge. „Anderen Akteuren im Gesundheitswesen wird damit nichts weggenommen!“, versichert er. Kassenchef Uwe Deh bezeichnet die ärzteseitige Argumentation als Chimäre: „Keine Kasse hat ein Interesse daran, ihren Versicherten falsch-positive Ergebnisse zu schicken!“ Dem Vorwurf der möglichen Risikoselektion seitens der Kassen entgegnet er mit dem Verweis, dass solche Geschäftsmodelle nicht tragfähig und nachhaltig seien.
Auch in Bezug auf die Nutzung von Sekundärdaten durch die Forschung oder Wirtschaft erwarten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 28. Plattform Gesundheit einen Paradigmenwechsel. „Bisher war wesentliches Entscheidungskriterium, wer Antragsteller ist“, erläutert Mieves. „In Zukunft steht die Frage des Forschungszweckes, der Gemeinwohl orientiert sein muss, im Mittelpunkt.“ Dies schließe auch die Arzneimittelforschung nicht aus. Er ist sich sicher, dass dies nicht nur die Gesundheitsversorgung verbessere, sondern auch den Standort Deutschland und die Wirtschaft stärke und Deutschland damit auch unabhängiger vom Ausland mache. Voraussetzung dafür seien umfangreiche, vollständige, aber natürlich pseudonymisierte Datensätze. IKK e.V.-Vorstandsvorsitzender Müller geht in seinem Vortrag in eine ähnliche Richtung, wobei er die Versicherten stärker im Blick hat. Müller fordert, dass man bei der wirtschaftlichen Nutzung von Daten sehr enge Rahmenbedingungen setzen sollte. „So muss die Nutzung von Daten zur Entwicklung von Arzneimitteln, Medizinprodukten oder ähnlichem mit einer Rückvergütungsoption einhergehen, damit die Versichertengemeinschaft für Innovation und Produkte nicht zweimal zahlen muss.“
In seinem Schlusswort fordert Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V., man müsse bei der Digitalisierungsdiskussion zurück auf die Realitätsebene kommen. Er verweist auf die aktuelle OECD-Untersuchung, nach der Deutschland am schlechtesten bei der Gesundheitsinformation abschneidet und eine rote Laterne für seine Versorgungsforschung bekommen hat. Als größte Herausforderungen sieht Hohnl, an standardisierte Daten zu kommen und die Interoperabilität zu sichern. „Wir brauchen darüber hinaus Transparenz, Verlässlichkeit und Planbarkeit. Und die Finanzierung muss gesichert sein!“. Einen wesentlichen Baustein zum Gelingen sieht Hohnl schlussendlich auch darin, Vertrauen zu haben – in die Versicherten, die Politik, die Akteure im Gesundheitswesen. „Der Vertrauensvorschluss muss auch für die Kassen gelten, wenn sie mit den vorhandenen Daten im Interesse ihrer Versicherten arbeiten wollen“, resümiert er zum Abschluss der Plattform.
Bildergalerie
Einen kleinen Eindruck von der 28. Plattform Gesundheit "Gesundheitsdaten: Von Patientennutzen und Profitversprechen" erhalten Sie hier in unserer flickr-Bildergalerie.